Kapitel 5: Blickkontakt

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Das Geräusch, welches der Zug auf den Schienen beim Fahren erzeugte, beruhigte meine Nerven auf unerwartete Art und Weise. Ich hatte noch nie Probleme damit gehabt, auf mich allein gestellt zu sein, aber in dieser ungewohnt schwierigen Lage war es nicht gerade einfach als sonst und deutlich gefährlicher. So war ich die letzten Stunden sehr damit beschäftigt gewesen, meine Mitschüler unauffällig nach nützlichen Informationen auszufragen. Daniel Crawford, in welchen ich mich verwandelt hatte, um Hogwarts zu infiltrieren, war glücklicherweise keines der sonderlich dummen Exemplare, das hatte ich sicherstellen lassen. Mich auf dumm zu stellen, gehörte nicht zu meinen Talenten. Allerdings war er gutgläubig und naiv, was, um ihn einzusammeln, natürlich alles vereinfacht hatte. So erwartete von seinen langjährigen Freunden auch niemand, dass er Dreck am Stecken haben könnte und ich hoffte inständig, dass das bei den Lehrern auch der Fall war.

Offensichtlich hatte ich etwas zu sehr in meinen Gedanken gehangen, denn Neil, einer der Freunde des Jungens, in dessen Körper ich nun steckte, wedelte vor meinem Gesicht mit seiner Hand hin und her, lachte. Ich lächelte dümmlich.

„Was ist?" Ich bemühte mich die ganze Zeit um eine einfache Sprache und um unschuldig wirkende Mimik. Der Mensch, für den ich mich ausgab, war verhältnismäßig einfach gestrickt und so musste ich mich geben und verhalten.

Die zwei Jungen, die mir gegenübersaßen, sahen sich an und feixten unkontrolliert. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. Es verstrichen einige Sekunden, in denen keiner etwas sagte. „Ach, vergiss es", murmelte Neil nun und grinste dabei vielsagend zu Isaac. So wie es aussah, hatte ich es hier mit ein paar ganz tollen Witzbolden zu tun.

Ich setzte ein verlegenes Lächeln auf. „Wie ihr meint." Ich hatte Mühe, mir meine Frustration über dieses Verhalten nicht anmerken zu lassen. Gerade fragte ich mich erneut, warum ich mich in diese unangenehme Situation brachte, mich in solch eine Gefahr begab, denn es war nahezu töricht. Darin, dass das Einschleusen, wie ich es nannte, die schnellste Methode war, um voranzukommen, bestand kein Zweifel mehr, doch genauso gut hätte ich jemand anderen dazu entsenden können. Ich hätte wesentlich weniger Stress gehabt und verstandestechnisch waren die anderen eher auf dem Niveau dieser Schüler als ich. Allerdings – und das war ein entscheidender Punkt – verlangte dieser Plan höchste Präzision und diese traute ich wohl niemandem außer mir selbst zu. Abgesehen davon kannte ich Albus, wusste wie er tickte und das war ebenfalls unabdingbar für die fehlerfreie Umsetzung und Ausführung dieses Plans. Tief in mir drin spürte ich aber, dass eiskalte Berechnung nicht der einzige Grund dafür war, dass ich jetzt hier saß und ich verachtete mich selbst dafür, meine Emotionen Teil meines Entscheidungsprozesses sein zu lassen. Bevor diese Gedanken weiter ausufern konnte, verdrängte ich sie. Darüber nachzudenken, würde es nur noch schlimmer machen.

Die Zugfahrt zog sich jetzt bereits über mehrere Stunden und es fing an, zu dämmern. Ob wir heute überhaupt noch ankommen würden? Was war das auch für eine bescheuerte Erfindung? Ich musste mich selbst daran erinnern, mich nicht wegen Nichtigkeiten aus dem Konzept bringen zu lassen und beschloss, mich nicht weiter darüber zu ärgern und stattdessen die Zeit dazu zu nutzen, mich an mein neues Wesen zu gewöhnen, indem ich mich dem albernen Verhalten meiner Mitschüler anpasste.

„Ich hoffe sooo sehr, dass die Lehrer dieses Jahr barmherziger mit uns sind. In Anbetracht der Umstände, meine ich." Ich seufzte, lehnte mich in meinem Sitz zurück und setzte einen verzweifelten Blick auf.

Isaac nickte zustimmend und fuhr sich durch sein dunkles Haar. „Das wäre mal ein Schritt in die richtige Richtung. Letztes Jahr war ja kaum auszuhalten", empörte er sich, während Neil ihm nur einen skeptischen Blick zuwarf.

„Ihr denkt doch nicht ernsthaft, dass dieses Jahr besser wird? Im Gegenteil: es wird härter werden als je zuvor." Im selben Moment hüpften ein paar Erstklässler an uns vorbei. Neil verdrehte nur die Augen. „Wenn die wüssten, was in ein paar auf sie zukommt, würden sie sich sicherlich nicht mehr freuen", schnaubte er verächtlich. Ich konnte es ihm nachempfinden, Kinder waren nervtötend in ihrem Glauben, die Welt sei ein schöner und fairer Ort.

Phönixasche (Grindeldore)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt