Noch nie war mir eine Woche so unendlich lang vorgekommen. Bis auf James, der mir mein Essen brachte und vor dem Mädchenwaschraum wartete, während ich duschen oder auf dem Klo war, hatte ich mit niemanden gesprochen. Nic war nicht noch einmal zu mir gekommen, was aber auch besser so war.
Ich wollte nicht, dass er auch noch in Schwierigkeiten geriet und wegen mir Ärger bekam. Und sicher war er nicht noch einmal zu mir gekommen, weil er nicht wollte, dass ich von der Schule flog, weil man ihn dabei erwischte. Aber umso mehr freute ich mich am Freitagabend, als ich in mein Bett stieg. Morgen würde der Alptraum endlich vorbei sein. Hoffentlich.
Es war ein seltsames und gleichzeitig auch schönes Gefühl, wieder in die Schuluniform zu schlüpfen. Die ganze Woche über hatte ich lediglich Jogginghosen und die schlichten Shirts der Sportkleidung getragen. Lächelnd strich ich den Stoff des Rocks glatt und knöpfte den Blazer zu.
Normalerweise ließ ich ihn offen (eine der wenigen Freiheiten, die man uns bei der Uniform ließ) aber heute hatte ich das Gefühl, dass es besser wäre ihn zu schließen. Automatisch wirkte mein Erscheinen viel artiger. Meine Haare hatte ich zu zwei Zöpfen geflochten, die mir über die Schulter fielen und ich stellte fest, dass meine Haare ganz schön gewachsen waren.
Es klopfte und ich strich ein letztes Mal über mein Outfit. „Ja", sagte ich und die Tür öffnete sich. „Die Anderen warten", sagte Cedric und ich nickte schnell. „Bin soweit", fügte ich dann hinzu und folgte ihm.
Im Gang war es still und generell war das gesamte obere Stockwerk wie ausgestorben. Die Totenstille verschwand aber, kaum dass wir unten angekommen waren. Aus dem Aufenthaltsraum drangen Stimmen und Gelächter und ich sehnte mich förmlich danach, endlich wieder mit meinen Freunden reden zu können. Wenn sie überhaupt noch meine Freunde sind...
Wir gingen zu Summers Büro und es wunderte mich nicht, dass nicht nur Summer auf mich wartete. Cassandra, Cassiopeia, Mary, James und auch Will waren im Raum. „Setz dich Evelyn", sagte Summer und ich gehorchte.
Wie immer thronte die Direktorin hinter ihrem Schreibtisch. James stand rechts neben ihr, während sich Cedric links von ihr positionierte. Cassandra, Cassiopeia und Mary hatten sich auf das Sofa gesetzt, während Will sich neben das Bücherregal positionierte.
„Ich hoffe du konntest deine Woche Hausarrest nutzen, um über dein Verhalten nachzudenken. Wir haben uns sehr lange und ausgiebig darüber beraten, was mit dir passieren sollte. Du hast nicht das erste Mal gegen die Schulordnung verstoßen. Allerdings liegen die meisten der Fehltritte in deiner Anfangszeit hier und du hast dich in eine positive Richtung entwickelt. Darum ist es umso schlimmer, dass deine zwei letzten Fehltritte solch schwere Vergehen gewesen sind!" Summer sah mich ernst an und ich senkte beschämt den Blick.
„Ich möchte von dir wissen Lynn, was denkst du sollten wir tun?" Ich war überrascht und sah sie an. Ihr Blick war aufrichtig und sie schien wirklich eine Antwort von mir zu erwarten. Und wie sie es anfangs gesagt hatte: ich hatte die Woche über viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken was passiert ist und wieso.
„Was ich getan habe, war absolut nicht in Ordnung und ist auch nicht zu entschuldigen. Ich weiß, dass ich Abby wirklich schwer verletzen hätte können. Und nicht nur Abby, sondern auch noch andere meiner Mitschüler. Es tut mir auch unendlich leid, was passiert ist und..." Ich schluckte.
„Und wenn du mich jetzt fragst, was ich an euer Stelle tun würde, dann kann ich nur sagen, dass ich nicht hier bleiben sollte", fügte ich hinzu und meinte jedes Wort genau so, wie ich es sagte. Summer hob überrascht die Augenbrauen und sah kurz zu James, als wolle sie sich eine Bestätigung holen, dass ich nicht log.
„Du würdest dich an deiner Stelle also von der Schule verweisen?" Ich sah Summer an. „Ja. Was ich gemacht habe, ist absolut nicht zu entschuldigen. Und... und ich möchte ehrlich sein", erklärte ich und zögerte kurz. „Ich habe mich während meines Hausarrestes nicht an deine Regeln gehalten. Ich habe noch am selben Tag wo du den Hausarrest ausgesprochen hast, mit jemanden geredet", sprach ich dann weiter und senkte den Blick.
Vielleicht war es dumm von mir, genau das zu erzählen. Aber eine innere Stimme sagte mir, dass ich ehrlich sein sollte. Ich verheimlichte eh viel zu viele Dinge und log. Wenn ich – trotz Nics Versicherung, dass das nicht passierte – von der Schule flog, dann wollte ich wenigstens so ehrlich wie möglich von hier weg gehen.
Oder aber ich blieb hier, mit der Gewissheit, dass Summer alles wusste und brauchte hinterher kein schlechtes Gewissen bekommen, dass ich – trotz meiner Lügen und meinen Geheimnissen – weiterhin hier zur Schule gehen durfte.
Summer sah mich einen Moment nachdenklich an. „Geht bitte raus", sagte sie dann und fast sofort verließen alle ihr Büro, sodass sie mit mir alleine war. „Es ist mutig von dir, mir das zu gestehen. Du überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Und vor allem macht es mich stolz, dass du so mutig bist und die Wahrheit sagst", sagte sie und stand auf.
Ich sah zu, wie sie zum Fenster ging und nach draußen sah. „Ich hatte gehofft, dass Cecilia mich anlügen würde, als sie mir sagte sie hätte beobachtete, wie ein Rabe zu dir ins Zimmer geflogen ist. Ich habe meinen Kollegen nichts davon erzählt, weil ich dachte ihre Entscheidung dich hier zu behalten, würde sich dadurch ändern", sprach sie ruhig weiter. Ich schluckte.
„Du wusstest es die ganze Zeit und hast nichts gesagt oder mich zur Rede gestellt?", fragte ich leise. Summer drehte sich zu mir um und lächelte leicht. „Nein, weil ich wirklich gehofft habe, Cecilia würde mich anlügen. Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Lynn", sagte sie und ich blinzelte eine Träne weg.
„Was genau ist am Freitag vorgefallen? Ich habe dir keine Gelegenheit gegeben, es zu erklären", sagte sie und sah mich an. Ich seufzte und zuckte mit den Schultern. „Das ist es ja eben. Ich weiß es selbst nicht", gestand ich und sah sie an.
„Diese ganze Situation, die Tatsache, dass ich meinen Freunden nichts erzählen darf und meine Lügen in Wahrheiten tarnen muss... Ich weiß nicht, wieso genau ich überhaupt so wütend geworden bin. Ich weiß, dass meine Freunde mir nur helfen und für mich da sein wollen. Aber... es macht mich wütend, nicht auf sie, sondern auf mich. Es ist keine Entschuldigung dafür, was ich getan habe und es erklärt es auch nicht wirklich", versuchte ich es irgendwie zu erklären.
Summer nickte leicht. „Erinnerst du dich, was deiner Meinung nach der Auslöser war?" Ich zögerte. „Ich war genervt, weil Julian mir wieder ganz genau sagen konnte, was ich fühle. Und meistens ist es das, was mich stört. Ich weiß ja, was fühle und ich weiß auch wieso ich das fühle. Aber ich kann diese Gefühle nicht teilen, weil ich... weil ich es einfach nicht soll", sagte ich und sah zu Boden.
„Vielleicht denke ich deshalb, dass es besser wäre, wenn ich nicht länger hier sein würde. Susan weiß was ich bin. Ihr muss ich nichts vormachen. Aber hier... Ich habe langsam das Gefühl, dass ich nicht einmal mehr weiß, wer ich überhaupt bin", fügte ich leise hinzu.
Summer kam zu mir und kniete sich vor mich. „Du bist Lynn. Und das wird sich nie ändern. Egal, was noch alles rauskommt und egal, was auch immer irgendjemand herausfindet oder sagt. Du bist Lynn. Die Tochter von Jolanda und du bist eine Grenzgängerin!" Ich sah sie an und sie lächelte.
„Wir haben uns dazu entschieden, dass du nicht von der Schule verwiesen wirst und ab nächster Woche ganz normal am Unterricht teilnehmen kannst. Dein Hausarrest ist ebenfalls aufgehoben und du hast wieder alle Freiheiten", sagte sie und ich sah sie überrascht an. „Aber..." „Kein Aber", unterbrach sie mich ruhig.
„Was du gemacht hast, war wirklich nicht in Ordnung und wir hätten allen Grund dazu, dich von der Schule zu werfen. Aber wir dürfen nicht außeracht lassen, was du in letzter Zeit alles erfahren und durchmachen musstest. Ich möchte aber, dass du mir eine Sache versprichst Lynn", sprach Summer weiter und sah mich an. Ich nickte.
„Rede mit uns, wann immer dich etwas bedrückt oder beschäftigt. Du kannst vielleicht nicht mit deinen Freunden über alles reden, aber wir sind für dich da. Und ich verspreche dir im Gegenzug etwas: ich werde alles dafür tun, dass du deinen Freunden alles erklären und erzählen kannst und sein kannst wie und vor allem was du bist!"
Ichs ah Summer an und lächelte. „Danke", sagte ich leise und Summer nahm mich in den Arm und drückte mich an sich.
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Silverleaf Academy - Was nach der Wahrheit kommt... (2)
ParanormalBuch Zwei. „Nein Lynn... Denn du bist, genau wie wir, ein übernatürliches Wesen..." Diese Worte veränderten mein Leben schlagartig. Alles, was ich geglaubt hatte zu wissen und zu sein, war aus meinem Kopf verschwunden. Ich wusste nicht mehr, wer ic...