36. Verantwortung

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Esra hockte auf ihrem Stuhl, die Arme um ihren Unterleib geschlungen, die Mine bitter verzogen. Die baldige Mutter beobachtete uns genau. Sorge und Verzweiflung hatten sich in ihren Blick gelegt. Wir hatten zu entscheiden - über ihre Zukunft und die ihres Kindes.

Faryd, Nuh und ich hatten uns hinter verschlossener Tür besprochen. Einvernehmlich hatten wir beschlossen, dass wir die junge Familie nicht im Stich lassen konnten. Irgendwie mussten wir helfen - doch wir wussten nicht im Ansatz, wie wir das anstellen sollten. Unsere Vorräte waren erschöpft, unsere Mitglieder körperlich wie psychisch am Ende. Wir hatten nichts außer der trockenen Unterkunft anzubieten - und selbst die mussten wir bald verlassen.

Uns lieb nur eine einzige Möglichkeit.

„Wir können nicht mehr lange bleiben.", erklärte Faryd mit seiner tiefen Stimme. „Dieser Ort", seine Handbewegungen versuchten, das gesamte Kloster einzufassen, „ist bald nicht mehr sicher. Wir müssen uns einen neuen suchen."

Kethert nickte finster, während ich das Wort ergriff. „Faryd und ich haben etwas Wichtiges zu tun bevor wir gehen, doch ihr werdet euch schon vorher auf den Weg machen." Mit den Händen strich ich über mein Gesicht, das sich in letzter Zeit sehr gespannt anfühlte. „Nuh, Rashid und Amani werden euch begleiten. Ich möchte, dass ihr auf sie achtet, als wäre es eure eigene Familie." Mit strengem Blick schaute ich den beiden tief in die Augen. Kethert war ernst und gefasst, sein Nicken entschlossen. Esra nickte flüchtig, als wäre sie bereit, alles zu tun, damit sie, Kethert und ihr Kind überlebten.

„Wann werden wir aufbrechen?", wollte der dunkle Hüne wissen.

„Noch heute Nachmittag.", war Faryds Antwort. „Wir müssen euch zwei Rucksäcke packen. Nuh, machst du das?" Der Junge nickte eifrig und sprang auf.

Mit einem Mal meldete sich Esra zu Wort. Alle schauten sich erstaunt zu ihr um.

„Darf ich mich irgendwo hinlegen?" Ihre Stimme war dünn und hatte nichts von ihrer alten Stärke an sich. Nuh bedeutete ihr, mit zu kommen. Mit wackeligen Beinen stand die junge Frau auf und verschwand kurz darauf aus der Küche.

Eisiges Schweigen herrschte am Tisch, nachdem die beiden gegangen waren. Esras Auftreten und ihre gesamte Erscheinung zeigten deutlich, wie erschöpft und aufgezehrt ihre Kräfte waren. Für die Schwangere musste ein Gang durch die Wildnis die reinste Qual sein. Beinahe bekam ich ein schlechtes Gewissen dabei, sie mit der Gruppe mitzuschicken. Doch hier zu bleiben wäre noch weitaus gefährlicher.

„Warum ist der Unterschlupf nicht mehr sicher?", wollte Kethert schließlich wissen.

Wir erzählten ihm die ganze Geschichte - vom Angriff der Tiere, dass die Regierung Nurvias eine Atombombe zünden wollte und wir einige Menschen aus der Stadt retten wollten. Zum Glück wollte er nicht wissen, wie wir das anstellen wollten - denn sonst hätten wir verraten müssen, dass Virno uns dabei half. Ich wusste nicht, wie sich das Mitwirken eines Klippendrachen bei unserem Plan auf Ketherts Gemütszustand auswirken würde.

Der Mann nickte stirnrunzelnd. Nach einigem Überlegen kam ihm eine weitere Frage in den Sinn. „Wieso verlangt ihr nicht, dass ich euch helfe?" Ich runzelte die Stirn, ließ ihn jedoch weitersprechen. „Es wird ein ziemlich schwieriges Unterfangen werden, in Nurvia einzubrechen. Es wäre von Vorteil, jemanden wie mich dabei zu haben, der sich mit der Stadt auskennt. Wenn ihr Esra beschützt, bin ich bereit, alles zu tun." Ich merkte, dass es ihm sehr schwer fiel, diese Worte auszusprechen. Er wollte mit den anderen mitgehen und eigenständig dafür Sorge tragen, dass Esra nichts geschah, doch unsere großzügige Hilfe drängte ihn dazu, uns zumindest seine Hilfe anzubieten.

Faryd schüttelte entschieden den Kopf. „Ein Vater sollte bei seiner Familie bleiben. Alles andere wäre falsch."

Ich spürte ein ungewohntes, warmes Gefühl, das sich in meiner Magengegend breit machte. Unwillkürlich musste ich zu meinem Kameraden hinüber sehen. Faryd war tatsächlich ein Mann von außergewöhnlicher Moral und Anstand. Diese Werte in einer Welt wie dieser zu behalten, zeugte von einem wirklich starken Charakter.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt