41. Liv

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Es war feucht, kalt und dunkel in den Höhlen unter der Stadt. Ein krasser Gegensatz zu den staubigen Straßen Nurvias und dem nährstoffarmen Boden, dem mit viel Mühe saftige Grünflächen und vereinzelte Bäume abverlangt worden waren. Man tat alles dafür, dass sich die Menschen möglichst wohl fühlten, damit keine Depressionen oder schlimmer noch, Aggressionen entstanden.

Hier unten hingegen hatte man das Gefühl, hoffnungslos verloren zu sein. Als hätten die Menschen die Gefangenen einfach vergessen. Saß man in einer der Zellen, musste es sich anfühlen, als ließe man sie gnadenlos verenden. Ohne Brot, Wasser oder Sonnenlicht. Sogar die Wachen schienen sich an der Atmosphäre zu stören - oder sie hielten es nicht für nötig, die Gefangenen weiter zu bewachen. Zumindest war kein einziger Hunter hier unten zu sehen.

Liv quälte sich durch die Gänge. Durch die Gitterstäbe zu beiden Seiten drangen hoffnungsloses Seufzen und schmerzerfülltes Stöhnen. Einen Moment lang war Liv froh darüber, dass sie die Gefangenen in der Finsternis nicht erkennen konnte. Dann kam sie zu der Zelle, in der ihr Vater sitzen musste.

Das Mädchen lehnte sich ganz dicht an die Gitterstäbe, als würde sie sich hindurch quetschen wollen. Sie zitterte so stark, dass sie ihren Vater nicht einmal rufen konnte. Doch wie sie merkte, war das gar nicht nötig.

Der ehemalige Präsident von Nurvia tauchte unerwartet aus dem Dunkeln auf. Mit langsamen Schritten kam er auf seine Tochter zu. Obwohl sein Haar verfilzt bis auf die Schultern hing und man ihm das Elend deutlich ansehen konnte, ging er aufrecht und erhobenen Hauptes. Allein dieser Anblick zauberte Liv ein kleines Lächeln auf die Lippen. So kannte sie ihren Vater: Stolz und unbeugsam. Die Müdigkeit, die sie vor ein paar Wochen auf seinen Zügen wahrgenommen hatte, war wie verflogen. Stattdessen schien er entschlossen, bis zum Ende zu kämpfen, obwohl die Situation momentan mehr als aussichtslos aussah.

„Liv", stellte der Mann mit einem leichten Lächeln fest. „Wie geht es dir?"

Der Expeditionsleiterin kamen beinahe die Tränen. „Hallo, Papa" Sie musste ein Schniefen unterdrücken. Ihr Vater sollte sie nicht schwach sehen. „Eigentlich sollte ich dich das fragen. Wie ist das gekommen?"

Ihr Vater schnaufte mit einem ironischen Lächeln. „In Zeiten wie diesen wird Demokratie offenbar nicht mehr geduldet.", erwiderte er rätselhaft, ließ jedoch direkt eine Erklärung folgen. „Der Rat will unbedingt seine radikalen Maßnahmen durchsetzen. Erpressung scheint dabei kein Mittel zu sein, vor dem man zurückschreckt, um alle auf seine Seite zu bringen. Urplötzlich waren alle davon überzeugt, man müsse diese verdammte Bombe zünden! Das wird uns alle noch umbringen..."

Liv war geschockt. „Der ganze Rat?" Als sie das letzte Mal bei einer Versammlung dabei gewesen war, hatten die meisten Mitglieder sehr unbeholfen auf den Vorschlag der Geheimwaffe reagiert. Im Endeffekt wollte niemand wirklich, dass sie gezündet wurde. Doch die Menschen hatten Angst und würden für den Schutz ihrer Lieben bis ans Äußerste gehen.

„Der ganze Rat.", bestätigte ihr Vater. „Alle rennen sie ihm hinterher, diesem heuchelnden Allesversprecher. Jetzt, wo der Untergang direkt vor ihrer Tür steht, sehen sie keine andere Chance mehr, als alles niederzubrennen und wegzurennen. Moral scheint keine Rolle mehr zu spielen, wenn man Angst hat."

Liv war einen Moment lang verwirrt. „Wer verspricht ihnen alles?"

„Na, wer wohl!" Der Mann warf die Arme in die Luft. „Der Herr Minister, der alles daran setzt, die ganze Welt dem Erdboden gleichzumachen. Der die Monster benutzt, um den Leuten Angst zu machen und alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen!"

Liv wusste nicht genau, wovon ihr Vater sprach, doch auf die Schnelle fiel ihr nur ein Minister ein, der zu so etwas im Stande wäre. „Der Verteidigungsminister?" An den hektischen Bewegungen des Gefangenen erkannte sie, dass sie richtig gelegen hatte. „Er hat die Macht über die Hunter und einen starken Sitz im Rat. Aber warum sollte er so etwas machen...?"

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt