8. Fragen

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Man hatte ihnen einen der Unterrichtsräume zur Verfügung gestellt. Einen kleinen mit eng aneinander gedrängten Tischreihen. Die Fenster waren zu und die Luft war stickig, doch Liv wollte sie nicht öffnen. Was sie in diesem Raum zu besprechen hatten, war zwar nicht geheim, doch es musste ja nicht gleich das ganze Caraunt davon erfahren. Niemand der vielen Novizen und Hunters hatten ihr jemals einen triftigen Grund dafür gegeben, ihnen zu vertrauen – und das tat sie auch nicht.

Außer denen, die nun vor ihr standen. Neunzehn Jugendliche und junge Erwachsene, aufgestellt in einer Reihe. Sie musste ihnen vertrauen können. Anderenfalls würde es die Mission dort draußen geradezu unmöglich machen. Umgekehrt hatten sie sich blind auf sie zu verlassen. Gegenseitiges Vertrauen war ein hohes Gut, das in diesen Tagen eher selten geworden war.

Liv musterte jeden einzelnen der Novizen besonders eingehend, prägte sich die Gesichtszüge ein und versuchte, Können und Loyalität abzuschätzen. Bisher war sie recht zufrieden mit ihnen gewesen. Keine Verspätung, keine dummen Sprüche. Kein einziges Wort war gefallen, seit sie diesen Raum betreten hatten. Offenbar waren sie sich alle der Wichtigkeit ihrer bevorstehenden Aufgabe bewusst. Das stimmte Liv zuversichtlich, dass sie sie bewerkstelligen konnten.

 Sieben weibliche und zwölf männliche Novizen. Keine Hunter. Man hatte Liv niemanden unterstellen wollen, der ranghöher war als sie – vor allem, weil man Aufmüpfigkeit befürchtete. Liv war dem Verteidigungsminister dafür sehr dankbar.

Fertig mit der Musterung ihrer Gruppe, stellte sich die junge Expeditionsleiterin wieder in einigem Abstand vor sie und schnappte sich das Klemmbrett vom Tisch. Eine Weile tat sie so, als würde sie in den Unterlagen lesen und ließ die Novizen noch ein wenig schmoren. Mal schauen, wer als erstes die Geduld verlor und eine Frage stellte. Doch niemand erzeugte auch nur einen Mucks und so legte Liv die Dokumente wieder weg. Sie war zufrieden.

„Hallo“, begrüßte sie die Gruppe. Ausgebildete Truppenführer begannen für gewöhnlich mit schroffen Befehlen und ohne Begrüßung, doch irgendwie hatte sie im Gefühl, dass es ihr nicht zustand, es genauso zu machen. Vor allem, da die meisten der Novizen deutlich älter waren als sie. „Ich hoffe, man hat euch erzählt, weshalb ihr hier seid und kennt das Ziel dieser Mission.“ Sie wartete einen Moment auf eine Reaktion, die ausblieb. Seufzend setzte sie sich auf eine Tischkante neben dem Klemmbrett und ließ die Beine baumeln. „Wir werden eine ganze Weile dort draußen miteinander verbringen, deshalb würde ich sagen, ihr stellt euch erst einmal vor, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.“ Sie hatte zwar sämtliche Namen auf einer Liste und sie sich auch schon eingeprägt, doch entscheidend für eine so ausführliche Mission war, dass ein gutes Klima zwischen den Gruppenmitgliedern und dem Leiter herrschte. (Hat ja bei Julias Gruppe wunderbar geklappt ;) )

Liv deutete auf den Novizen ganz links, der etwa in ihrem Alter zu sein schien und bedeutete ihm, zu beginnen. „Jonathan Tranuss.“ Es dauerte eine Weile, bis sie mehr aus ihm heraus bekam. “Also… Ich bin seit knapp zwei Jahren im Caraunt und wollte mich zum Schützen ausbilden lassen… eigentlich. Aber sie brauchten noch jemandem im Außendienst…“ Er strich sich etwas nervös zwei schwarze Strähnen aus dem Gesicht. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte.

Liv beschloss, ihn nicht länger zu quälen und verfuhr mit den nächsten Novizen genauso. Die Stimmung lockerte sich nur langsam auf, aber die Jugendlichen wurden zusehends entspannter und trauten sich jetzt auch, etwas zu sagen. Liv wollte zwar, dass sie respektvoll und geduldig sein konnten, wenn es drauf ankam, doch man musste diesen Zustand ja nicht durchgängig beibehalten.

Wirklich behaglich wurde die Atmosphäre trotzdem nicht. Hunters waren eben von Natur aus sehr steif – um nicht zu sagen, angespannte Nervenbündel.

Mittlerweile saß die ganze Gruppe auf Tischkanten und Liv lehnte vorne am Pult. Sie nahm ihr Klemmbrett wieder zur Hand und begann, der Gruppe den Plan zu erklären. Sie wollten am nächsten Tag aufbrechen und sich auf den Weg zum Rand der Schlucht machen – Süd-östlich von hier, wo die gescheiterte Expeditionsgruppe den Abstieg in Angriff genommen hatte. Ohne Zwischenfälle würden sie es innerhalb von einer knappen Woche dorthin schaffen. Sie rechneten mit neun Tagen. Es gab immer Zwischenfälle. Etwa genauso lange würde der Rückweg dauern.

Das Caraunt stellte jedem von ihnen geeignete Waffen zur Verfügung. Die Arten von Waffen, mit denen sie geübt hatten – also größtenteils Schwerter. Sie alle hätten es besser gefunden, Schusswaffen dabei zu haben, doch die Anzahl dieser Werkzeuge war begrenzt und es war wirklich schwer, in diesen Zeiten Schießpulver aufzutreiben. Sie bekamen keine Schusswaffen – vor allem, da niemand von ihnen bisher gelernt hatte, mit einer solchen umzugehen. Also waren sie auf ihre Körperkraft und scharfe Klingen angewiesen.

Außerdem würde jeder von ihnen einen Rucksack mit Decken und ausreichend Proviant bekommen. Das alles hörte sich so einfach an, doch Liv wusste, dass es das nicht war. Sie hatte drei Novizen dabei, die noch nie in ihrem Leben außerhalb von Nuvia gewesen waren und wusste, dass sie zunächst überrumpelt sein würden. Ohne ein vergleichbares Erlebnis war der Gang in die wilde Natur etwas vollständig Neues und bis dahin unverständliches. Liv fragte sich, was man sich dabei gedacht hatte, diese Neulinge auf eine derartige Mission mitzuschicken. Doch in diesen Zeiten musste man schnell erwachsen werden und ein Schubs ins kalte Wasser war vermutlich die beste Methode, schwimmen zu lernen.

Sie redeten noch eine Weile miteinander, dann entließ Liv die Gruppe. Sie sollten sich vor der großen Aufgabe gut ausruhen. Liv klemmte die Blätter zurück auf das Holzbrett, das man ihr gegeben hatte und wollte hinter den Novizen aus dem Raum strömen. Doch als sie aufblickte, begegnete sie dem Blick eines Jungen, der geblieben war. Sie lächelte ihm freundlich zu.

„Ist noch etwas?“, fragte sie, obwohl sie eigentlich nichts dringlicher wünschte, als ins Bett zu verschwinden. Es war ein anstrengender Tag gewesen.

„Ja, ähm…“ Der Junge druckste ein bisschen herum. Eine der braunen Korkenzieherlocken fiel ihm ins Gesicht und er strich sie hastig zurück. „Ich habe noch eine Frage zu der Expeditionsgruppe, die… die nicht vollständig zurückgekehrt ist.“

Liv nickte und ärgerte sich, dass sie sich nicht gemerkt hatte, wie er hieß. Mindestens siebzig Prozent der Namen konnte sie inzwischen auswendig, doch seiner war ihr entfallen. Er war bisher auch eher zurückhaltend gewesen. „Was möchtest du wissen?“

„Ich habe gehört, dass, naja… sie etwas gesehen haben sollten. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren…“ Er runzelte die Stirn und musste nicht weitersprechen. Liv wusste, was er meinte. Der Verletzte hatte von einem Mädchen gesprochen, das mit den Tieren sprechen konnte. Sie stöhnte. Offensichtlich hatte sich dieses Gerücht bereits verbreitet. Der Junge setzte seine Frage fort. „Wissen Sie etwas darüber? Hat man sie genauer erkennen können? Waren noch andere bei ihr…?“

Liv unterbrach seinen Redeschwall abrupt. „Hör zu. Der Mann, der von der Gruppe zurückgekehrt ist, hat eine Menge durchgemacht. Es ist offensichtlich, dass er nicht mehr bei klarem Verstand ist und dieses Mädchen… Ich will ehrlich sein. Das war nur ein Hirngespinst. Niemand kann mit Tieren sprechen – das wäre ja absurd.“

Der Junge legte die Stirn noch tiefer in Falten. „Ja. Da haben Sie wahrscheinlich recht…“

Irgendwie sah er enttäuscht aus. Hatte er etwa wirklich gedacht, man könne mit diesen Ungeheuern kommunizieren?

„Aber gab es vielleicht noch andere Menschen bei dem Mädchen? Oder konnte man erkennen, wer sie war? Hat man sie schon einmal in Nurvia gesehen?“

Liv zog eine Augenbraue hoch. Was sollten nur diese ganzen Fragen? „Ich denke nicht, nein… zumindest weiß ich davon nichts. Aber – warum willst du das alles wissen?“

Er ließ einen Schwall Luft aus. „Naja, das ist jetzt wahrscheinlich nicht so wichtig…“ Er wirkte tatsächlich niedergeschlagen. „Aber danke für Ihre Hilfe.“

„Gerne doch, ähm… wie war noch gleich dein Name?“

„Conec“, antwortete der Junge und schenkte ihr noch ein müdes Lächeln, bevor er den Raum verließ. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, murmelte Liv und schaute ihm stirnrunzelnd hinterher. Das war eine wirklich seltsame Begegnung gewesen. Schulterzuckend hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und ging ebenfalls in Richtung der Schlafräume. Morgen würde ein stressiger Tag werden und sie brauchte dringend ein wenig Ruhe.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt