37. Aufbruch

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Die Sonne war schon bald bereit, sich zum Schlafen nieder zu legen. Ihre letzten Strahlen lugten hinter dem Horizont hervor und tauchten Gollar in ein tief dunkles Rot. Die Geisterstadt lag einsam da. Nur eine kleine Gruppe Menschen drängten sich auf der großen Hauptstraße zusammen. Als wollten sie ihren Mangel an Anzahl mit der Dichte auf einem einzigen Fleck wieder wettmachen.

Nuh hatte die Rucksäcke gepackt und an die beiden Neuankömmlinge weiter gegeben. Alle fünf waren jetzt bereit zum Aufbrechen. Je eher sie gingen, desto besser. Wenn in Nurvia alles in die Luft ging, war es besser, so weit wie möglich entfernt zu sein.

Rashid hatte seine übliche, griesgrämige Miene aufgesetzt und blickte ungeduldig in die Runde. Zwar gefiel es ihm nicht, fliehen zu müssen, doch er sah ein, dass es keine andere Möglichkeit gab und wollte seinen Nachwuchs so rasch wie möglich in Sicherheit wissen. Er verabschiedete sich von mir mit einem knappen Nicken.

Amani hatte ich vor ihrem Aufbruch die Haare ordentlich geflochten und fest hochgesteckt, sodass sich die Frisur nicht so leicht wieder lösen würde. Ich wollte nicht, dass ihr schon nach den ersten Schritten die Strähnen wieder ins Gesicht rutschen würden. Als Dank dafür umarmte mich das kleine Mädchen fest und lächelte mich tapfer an. Ich war stolz auf sie.

„Pass auf sie auf.", schärfte ich ihrem Bruder ein, der direkt neben ihr stand und schon jetzt wie ein Schatten über sie wachte. Der Junge nickte entschlossen und ernst. Dann umarmte ich auch ihn zum Abschied.

Die beiden Kinder waren mir schon sehr ans Herz gewachsen. Beinahe, als wären sie meine eigenen Geschwister. Ich hoffte inständig, dass ihnen nichts passieren würde.

Mit einem schweren Stein auf dem Herzen nickte ich ihnen ein letztes Mal zu und gesellte mich zu Kethert, Esra und Faryd. Letzterer gab noch ein paar hilfreiche Tipps, wie man am besten in der Wildnis zurechtkam. Nuh kannte zwar alle Tricks und Kniffe, doch für die zukünftigen Eltern war es wichtig, so etwas zu wissen – für den Fall, dass sich die Gruppe trennen musste. Gerade als ich dazu stieß, fachsimpelten die Männer über die beste Stellweise einer Falle. Ich hatte nie mit Fallen gearbeitet und konnte mich nicht einmischen. Stattdessen hielt ich Kethert ein großes Stoffbündel entgegen, das der Hüne erst verständnislos musterte.

„Das hast du mir gegeben.", half ich nach und bekam ein schiefes Grinsen zustande. „Bei unserer letzten Begegnung. Du bist so schnell verschwunden, dass ich ihn dir nicht zurückgeben konnte..."

Mit Nachdruck streckte ich es ihm entgegen, bis er es endlich an sich nahm. Als er es auseinander faltete, kam ein weiter, robuster Mantel zum Vorschein, der mit seinem staubigen Braunton kaum zu erkennen war. Bis auf ein paar Flicken, die ich nur mäßig gerade angenäht hatte, war er noch gut instand und kaum dreckig. Ich war stolz darauf, ihn so lange gut gehalten haben zu können. Sämtliche meiner anderen Kleider waren vor Verschleiß nicht mehr als solche zu erkennen. Kethert hatte auch nicht viel mehr Erfolg damit gehabt, wie ich jetzt feststellte. Sein Oberteil war verdreckt und die Hose hing in Fetzen.

Kethert brauchte einen Moment, um das Kleidungsstück wieder zu erkennen. Dann gab er ein einfaches „Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.", von sich.

„Er hat mir sehr geholfen. Hat mich nachts warm gehalten und mich vor Verletzungen geschützt." Ich fuhr mit einer Hand über den ledrigen Stoff. „Obwohl er nicht dafür bestimmt war, dass ich ihn behalte, möchte ich dir dafür danken.", endete ich und lächelte ihn an.

Bevor der Mann etwas erwidern konnte, tauchte Rashid an meiner Seite auf. „Könntet ihr euch etwas beeilen?", grummelte er genervt. „Wir müssen langsam los."

Ich umarmte Kethert rasch und drückte ihn fest. Die Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte, würde ich niemals vergessen. Er war immer für mich da gewesen – wie ein großer Bruder.

Im Anschluss umarmte ich sogar Esra. Sie erwiderte die Geste nur schwach, hatte kaum mehr Kraft in den Armen. Ich hoffte inständig, dass sie die Reise überleben würde. Sie und ihr ungeborenes Kind.

Dann sahen wir der Gruppe dabei zu, wie sie die Straße hinunter wanderte und winkten, während die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verblassten.

Meinem Magen wurde immer mulmiger zumute. Die Ankunft der Hunters in Nurvia rückte immer näher und mit ihr unsere Aufgabe. Noch immer nagten die Zweifel an mir, ob alles problemlos verlaufen würde.

Faryd fasste sanft meine Hand. Wir waren die einzigen Menschen, die auf der dunklen Straße standen. Die kühle Nachtluft strich sacht durch meine Haare. Ich fröstelte.

„Wir sollten auch aufbrechen.", erklärte mein Kamerad. Sein Blick fixierte mich. Obwohl ich seine Aufregung deutlich spüren konnte, blieb er nach außen hin gelassen. Seine gesamte Mimik, seine Bewegungen, die mir inzwischen so vertraut waren. Wir hatten schon vieles miteinander erlebt. Ich würde nicht behaupten, dass ich ihn so gut kannte wie Thunder, doch auch mit ihm an meiner Seite würde ich jederzeit in einen Krieg ziehen. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen – ohne zu zögern.

Im Innenhof des Klosters war es weniger windig. Das alte Gemäuer fing das kühle Wetter gut ab.

Virno thronte im Mittelpunkt. Vor ihr lag eine kleinere Gestalt auf einem dicken, mit Schnüren verbundenen Laken. Ich kniete mich zu meinem Tigerbären hinunter. Er sah nicht besser aus als normalerweise. Wie immer verspürte ich den Drang, ihn zu berühren, seine Gedanken zu vernehmen und in seine Welt einzutauchen.

Doch ich musste mich zurück halten. Die Aufgabe, die vor mir lag, brauchte mich gesund. Ich konnte nicht riskieren, mich von meinem Freund anstecken zu lassen – auch, wenn das bedeutete, ihn in seinem Leid alleine zu lassen.

Nicht mehr lange und es ginge ihm wieder gut.

Entschlossen erhob ich mich und ließ mir von Faryd auf den Rücken des geflügelten Tieres helfen. Das Abheben war ich inzwischen gewohnt. Es machte mir keine Angst mehr.

Das, was mir Sorgen bereitete, war noch eine gute Stunde und eine unbestimmte Zeit des Wartens entfernt. Was ich brauchte, hatte ich bei mir: Zwei scharfe Messer, genügend Verpflegung und mein Schwert.

„Bist du bereit?", hörte ich Faryds tiefe Stimme hinter mir.

„Ja.", erwiderte ich leise.

Der Klippendrache erhob sich mit lautem Gebrüll von der Erde. Mit wenigen, starken Flügelschlägen stieg er in die Lüfte auf, bis er anmutig am Nachthimmel schwebte. Mutig und voller Tatendrang flog er in die andere Richtung als die Reisenden gingen. Nach Osten – der Stadt und der Gefahr entgegen. Unter ihm ein krankes Tier in einem Tuch baumelnd, doch auf seinem Rücken zwei gefährliche Krieger.

Wir würden Thunder heilen und meine Familie retten.

Wir würden die totale Vernichtung der Tiere und der Natur aufhalten.

Und wir würden vor nichts zurückschrecken – auch nicht vor dem Tod...

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt