54. Nurvia

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Die Präsidentin von Nurvia starrte mit einem missmutigen Blick auf die Tür. Alle anderen im Ratszimmer machten ihr nach. Das harte Holz starrte ausdruckslos zurück.

Gerade hatte es geklopft.

Wir waren mitten in einer Besprechung. Ich blinzelte zur großen Wanduhr hinüber, die fast achtzehn Uhr anzeigte. Was war so wichtig, dass es jemanden berechtigte, uns zu dieser späten Stunde zu stören?

Liv klopfte ärgerlich mit zwei Fingern auf die Tischplatte. Sie warf ebenfalls einen raschen Blick zur Uhr. Dann hallte ihre Stimme laut und klar durch den Raum. „Herein"

Die schlichte Holztür öffnete sich. Ein Mann trat herein, den ich als Hauptmann der... gut, wir hatten keinen Namen dafür gefunden. Außenposten hätte es normalerweise geheißen. Oder Männer zur Verteidigung des Stützpunktes. Nur dass das alles viel zu sehr nach Krieg klang.

Ich hätte das Wort Nachtwache schön gefunden. Jemand, der nachts nach dem Rechten schaute – außen wie innen. Doch die Männer waren viel zu sehr daran gewöhnt, auch tagsüber ihre Runden zu drehen. Der Krieg war eben doch noch nicht zu Ende.

Zwar hatte die Drachenmutter die Tiere zum Rückzug bewegt, doch seitdem hatten wir keinen aufklärenden Kontakt zu ihnen gehabt. Ich hatte den Standpunkt der Menschen hoffentlich zur Genüge klar gemacht, doch dass ein riesiges, fliegendes Ungeheuer seine Rache anscheinend vergessen hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sich alle anderen Tiere dem anschlossen. Ich hätte es einen instabilen Waffenstillstand genannt. Zwar ließen die Tiere uns fürs Erste in Ruhe, doch wir mussten etwas dafür tun, diesen Frieden aufrecht zu erhalten. Jetzt waren die Menschen an der Reihe, auf die Tiere zuzukommen. Wir würden unser Bestes geben, doch ob wir das schafften, was wir zu erreichen wünschten, stand noch in den Sternen.

Der Mann, der hereintrat, war der Kommandant der Gruppe, die heute Dienst hatte. Das wusste ich, weil es nicht schwer war, bei nicht einmal zwanzig Leuten den Überblick zu behalten. Nurvia war auf ein Minimum zusammengeschrumpft, doch die Männer und Frauen, die übriggeblieben waren, waren sehr gute Leute. Ich war zufrieden mit unserer kleinen Gemeinschaft. Alle taten fleißig ihre Arbeit und niemand beschwerte sich über die Zustände, auch wenn langsam die Nahrungsvorräte zur Neige gingen.

Kleidung und Wohnräume hingegen hatten wir zur Genüge. Noch musste sich niemand darum streiten. Doch wir hatten nicht vor, für immer in dieser Konstellation zu bleiben. Gerade waren wir dabei, ein neues Rechtssystem zusammenzutragen, das alle in Ruhe leben ließ. Auch, wenn unsere Gesellschaft in der Zukunft wachsen würde.

„Es kommt eine Gruppe Menschen auf uns zu. Von Westen her."

Ich wurde hellhörig. „Wie viele sind es?"

„Sechs. Zwei davon Kinder." Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Alle vollzählig.

Ich spürte Livs Blick auf mir. Mit ruhiger Miene wandte ich mich ihr zu und nickte. „Das sind sie."

Liv richtete sich an den Mann. „Wir kommen mit und sehen uns das an." Etwas mühseliger, als sie es wohl beabsichtigt hatte, stieß sie sich von der Tischplatte ab und vollführte eine Vierteldrehung. Das Rollstuhlfahren war sie noch nicht gewohnt und es bereitete ihr Schwierigkeiten.

Ich versuchte, mich eigenständig aus meinem Sitz hochzudrücken, doch schon war Conec zur Stelle, um mir aufzuhelfen. Der Kommandant reichte mir meine Krücke, die wir wie den Rollstuhl irgendwo aufgegabelt hatten, und geleitete mich aus dem Gebäude. Sicher hätten die beiden auch Liv den Weg bereitet, doch die stolze Frau lehnte jede Art von Hilfe ab. Sie würde ihr Leben lang damit zurechtkommen müssen. Irgendwann würde sie sich daran gewöhnen.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt