Kapitel 20

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Mein Schlaf wurde unterbrochen, als mich eine unerträgliche Übelkeit überkam. Ich schlug die Decke zurück und stürzte ins Badezimmer, wo ich gerade noch rechtzeitig die Toilette erreichte. Ich fiel auf die Knie und mein Körper verkrampfte sich schmerzhaft, während ich all den Scham, die Verzweiflung und selbstverständlich auch den Alkohol des vergangen Abends in die Schüssel vor mir erbrach.
Es dauerte nicht lange, bis Lilly hinter mir auftauchte. Sie sank zu mir auf den Boden und hielt mit sanft die Haare aus dem Gesicht, während ich mich immer und immer wieder übergab. Die Erschütterungen, die meinen Körper durchfuhren waren so heftig, dass ich kaum merkte, wie Lilly mir beruhigend über die Rücken strich. So furchtbar ich mich auch fühlte, ich wusste, dass ich es verdient hatte. Ich allein war Schuld daran, dass ich mich so fühlte, weil ich mir selbst und meinem Körper zu viel zugemutet hatte. In diesem Moment schämte ich mich noch mehr als noch vor wenigen Stunden und ich schwor mir selbst, dass ich es nie mehr so weit kommen lassen würde. Mit alledem war nun endgültig Schluss, denn ich wusste, dass es andernfalls kein gutes Ende für mich nehmen würde.
Mit der Zeit wurde es besser. Mein Magen schien vollends geleert zu sein, denn ich ließ meinen Kopf erschöpft auf den Rand der Klobrille sinken und schloss die Augen. Lilly war mir während meines absoluten Tiefpunktes nicht von der Seite gewichen und auch jetzt war sie da, half mir auf und brachte mich zurück in Bett.
"Es kann so nicht weitergehen, Y/N", sagte sie, während sie mich zudeckte und mir das Glas Wasser von meinem Nachttisch reichte. Mit zittrigen Fingern nahm ich es entgegen und trank vorsichtig einen winzigen Schluck. Meine Hals fühlte sich furchtbar trocken und gereizt an, außerdem hatte ich Angst, mich erneut übergeben zu müssen. "Ich weiß.. ich weiß", murmelte ich erschöpft und konnte meine Augen kaum noch offen halten. Lilly ging um das Bett herum und legte sich wieder zu mir. Bevor ich endlich wieder einschlief, ließ ich unser vorheriges Gespräch noch einmal Revue passieren. Ich konnte mich noch an jedes einzelne Wort erinnern. Lilly glaubte, dass Jake zu mir zurückkommen würde, doch das war etwas, worauf ich mich nicht verlassen konnte. Auch wenn diese Einsicht viel zu spät kam, ich würde nicht für den Rest meines Lebens auf einen Geist warten. Ich liebte Jake. Mehr als alles andere, doch mein Leben musste weiter gehen. Irgendwie.

Lilly saß bereits Nebenan auf dem Sofa und tippte auf ihrem Handy als ich zu ihr stieß. Ich fühlte mich elend. In meinem Kopf pochte es unerträglich und auch mein Gleichgewicht war noch immer ziemlich beeinträchtigt.
"Wie fühlst du dich?", fragte Lilly, während ich mich in die Küche schleppte und mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm.
"So, wie ich es verdient habe, würde ich sagen". Meine Stimme klang rau und ich musste mich räuspern, damit mir überhaupt ein Ton über die Lippen kam. Ich ging zu ihr und ließ mich neben sie in die Polster sinken. Prüfend sah sie mich an, doch sie sagte nichts.
"Es tut mir alles so leid, Lilly", platzte es schließlich aus mir heraus. Desto klarer ich wurde, umso unangenehmer war mir mein Verhalten der vergangenen Wochen. Letzte Nacht hatte ich meinen persönlichen Tiefpunkt erreicht und die Tatsache, dass Lilly mich so gesehen hatte, hatte mir schließlich die Augen geöffnet.
Sie ließ sich Zeit, bevor sie etwas erwiderte.
"Ich weiß, dass es dir in letzter Zeit sehr schlecht geht, das wissen wir alle. Aber keiner von uns kann länger mit ansehen, wie du durch dein selbstzerstörerisches Verhalten dein ganzes Leben wegwirfst. Wir sind doch deine Freunde, Y/N. Wir können dir helfen, das durchzustehen, aber nur, wenn du uns lässt".
Ich wusste, dass sie Recht hatte. Natürlich hatte sie Recht und trotzdem trafen mich ihre Worte mit voller Wucht. "Ich weiß, Lilly.. es ist nur.. ich hatte das Gefühl, all das allein durchstehen zu müssen. Die anderen haben meine Verbindung zu Jake nie wirklich verstanden und du.. du bist seine Schwester.. Ich hatte einfach Angst, dass der Kontakt zu dir es noch schmerzhafter für mich machen würde..", meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. "Und ich weiß, wie unfair das von mir war. Auch du hast ihn verloren.. das ist mir jetzt klar..".
Zum ersten Mal erlebte ich Lilly nervös. Sie saß dort, wich meinem Blick aus und spielte mit ihren Fingern.
"Weißt du.. ich mache dir keine Vorwürfe, wirklich nicht.., aber wir brauchen dich auch. Es ist alles nicht so einfach, seit Hannah wieder da ist und.." Ich hob die Hand, um sie zu unterbrechen.
"Ich weiß. Es tut mir unglaublich leid, dass ich nicht für euch da war. Ich habe alles um mich herum einfach ausgeblendet, aber ich verspreche dir, dass damit jetzt Schluss ist. Du weißt schon.. Einer für alle.."
"Und alle für Einen", beendete sie meinen Satz. Ich drückte kurz ihre Hand und schenkte ihr ein schwaches, aber echtes Lächeln.
Ich wusste, dass ich Einiges wiedergutzumachen hatte, und ich nahm mir fest vor, direkt damit anzufangen. Zuerst fragte ich Lilly nach Hannah und wie es ihr seit ihrer Befreiung ergangen war. Sie erzählte mir, dass Hannah zunächst große Schwierigkeiten gehabt habe, alles zu verstehen und zu akzeptieren, dass Richy sie entführt hatte. Außerdem habe sie Amys Tot zusätzlich aus der Bahn geworfen. Wie bereits vermutet, hatte Hannah nichts von Amys Selbstmord gewusst. Sie tat mir unheimlich leid, all das würde sie für ihr Leben lang nie wieder vergessen und ich hoffte sehr, dass sie stark genug war, um mit dem, was ihr widerfahren war, weiterzuleben.
Ich bot Lilly an, dass sie mich jederzeit um Hilfe bitten könne und versprach ihr, dass sie sich von nun an keine Sorgen mehr um mich machen müsse. Ich hoffte sehr, dass ich es schaffte dieses Versprechen einzuhalten, doch ich konnte die Person, zu der ich geworden war, selbst nicht länger ertragen. Es standen einige Veränderungen an und ich war entschlossen, einige davon sogleich in die Tat umzusetzen.

Nachdem Lilly gegangen war, sprang ich unter die Dusche, denn ich fühlte mich ekelig und roch nach Erbrochenem. Anschließend wagte ich mich an ein leichtes Frühstück, um meinem Magen noch nicht zu viel zuzumuten. Es war bereits nach 14 Uhr, als ich vor dem Spiegel stand und mich genauer betrachtete. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich es geschafft mich vernünftig zu kleiden, meine Haare zu stylen und sogar ein wenig Make-Up aufzutragen. Es war eine deutliche Verbesserung und doch erkannte ich mich selbst kaum wieder. Meine sonst so sprunghaften Locken wirkten kraftlos und glichen eher Wellen. Die Schatten unter meinen Augen waren dunkler als jemals zuvor und ich hatte abgenommen. Mein eigener Anblick erschreckte mich, denn zum ersten Mal realisierte ich wirklich, was ich mir selbst angetan hatte. Und obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich jemals wieder ganz die Alte werden würde, fühlte ich mich zum ersten Mal etwas besser. Der Gedanke meine Wohnung zu verlassen bereitete mir nicht länger Bauchschmerzen und ich sehnte mich danach, andere Menschen zu sehen. Also machte ich mich auf den Weg und ich wusste auch genau, wohin ich als Erstes gehen würde.

Wenig später stand ich vor der Aurora. Erinnerungsfetzen des vergangenen Abends schossen mir durch den Kopf und ich schämte mich so sehr für mein gestriges Verhalten, dass ich am Liebsten direkt wieder gegangen wäre. Doch ich wusste, wenn ich jetzt ging, würde ich wieder in alte Muster zurück verfallen.
Die Bar war noch geschlossen und würde erst in einigen Stunden öffnen, trotzdem konnte ich Phil durch die Scheiben erkennen, wie er hinter der Theke stand und aufräumte. Ich atmete tief durch und nahm schließlich all meinen Mut zusammen, um an die Scheibe zu klopfen. Er hob den Kopf und seine Augen weiteten sich, als er mich erkannte. Einen Moment blieb er wie angewurzelt stehen, nicht ganz sicher ob er mich ignorieren oder hereinlassen sollte, doch schließlich kam er auf mich zu. Ich sah zu, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür öffnete. Seine Mine war unergründlich und er sah mich einfach nur an.
"Können wir vielleicht reden?". Ich merkte selbst, wie unsicher es klang, weswegen ich umso erleichterter war, als Phil nickte und mich an sich vorbei eintreten ließ.
Unschlüssig stand ich im Raum und er bedeutete mir, ihm an die Bar zu folgen.
Nervös nahm ich auf demselben Barhocker platz, auf dem ich bereits in der vergangenen Nacht gesessen hatte.
"Ich würde dir ja einen Drink anbieten, aber so eine Verrückte hat gestern meinen gesamten Wodka Vorrat vernichtet".
Schlagartig wurde mir unerträglich heiß und ich wollte bereits aufspringen und hinausrennen, als sein Pokerface zu bröckeln begann und er sich sein Grinsen nicht länger verkneifen konnte. Meine Wangen glühten und ich wusste nicht recht, was ich zu ihm sagen sollte. Bevor ich losgegangen war, hatte ich mir meine Worte genau zurechtgelegt, doch nun ..
"Wie geht es dir heute?", fuhr Phil fort, als ich keinen Ton herausbrachte. Ich zwang mich dazu, mich zusammenzureißen, setzte mich aufrecht hin und schüttelte den Kopf.
"Nicht der Rede wert. Hör mal.. ich bin hier, um mich für gestern Abend zu entschuldigen. Ich habe mich wirklich daneben benommen und du sollst wissen, dass sowas nie wieder vorkommen wird"
Augenblicklich begann Phil den Kopf zu schütteln. Er lehnte sich lässig auf seine Unterarme gestützt an die Theke.
"Hör mal, du musst dir da wirklich keinen Kopf machen. Du bist nicht die Erste, die hier hereinschneit und ihre Sorgen ertränkt. Ich habe dich bewusst nicht vom Trinken abgehalten. So hatte ich dich wenigstens im Auge. Hätte ich versucht, dich davon abzuhalten, wärst du wahrscheinlich in den nächsten Club gezogen, und glaub mir, da sind manchmal ziemlich zwielichtige Gestalten unterwegs", er zwinkerte mir zu und begann die Theke mit einem Lappen abzuwischen. In diesem Moment wurde mir klar, das Phil mich wahrscheinlich in gewisser Weise beschützt hatte. Gleichzeitig schoss mir eine Frage durch den Kopf, die ich mir bereits gestern schon gestellt hatte.
"Warum hast du Lilly angerufen?". Das hatte sich für mich bisher nicht erschlossen.
Er zuckte mit den Schultern, als er antwortete. "Du wolltest nicht, dass ich Jessy anrufe und sie war die letzte Person, die versucht hatte, dich anzurufen".
Ich runzelte die Stirn, doch dann fiel mir wieder ein, dass Phil nach meinem Handy gesucht hatte, während ich vor ihm zusammengebrochen war. Langsam nickend stand ich von meinem Hocker auf und machte mich zum Aufbruch bereit. Fürs erste war alles gesagt und ich wollte Phil nicht länger aufhalten.
"Danke für Gestern.. schätze ich.. Vielleicht kann ich mich ja irgendwann dafür revanchieren..", ich lächelte matt und suchte aus meiner Tasche einen Fünfziger heraus den ich vor ihm auf den Tresen legte. "Damit du deine Wodka Vorräte auffüllen kannst", beantwortete ich seinen fragenden Blick, lächelte ihn an und wand mich zum Gehen um.
"Warte mal, Y/N. Es gibt da tatsächlich etwas, was ich dich gern fragen würde.."

Duskwood - The things we lost in the fire Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt