Kapitel 33

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Jake ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um mich zu beruhigen und wieder völlig klar im Kopf zu werden. Ich konnte spüren, dass auch ihn einiges beschäftigte, weshalb es mich auch nicht überraschte, dass er das Schweigen zwischen uns schließlich nicht länger ertragen konnte.
"Ich weiß, dass das, was heute geschehen ist, nicht leicht für dich ist und ich kann verstehen, dass du enttäuscht von mir bist. Aber ich würde es dir wirklich gern erklären. Du hast die Wahrheit verdient und es tut mir leid, dass du es unter diesen Umständen erfahren musstest".
Ich nickte stumm. Es war an der Zeit, die ganze Geschichte zu hören, denn ich hatte es satt, immer nur in Bruchteile der Gesamtsituation eingeweiht zu werden. Hier ging es um mein Leben, und ich hatte ein Recht darauf, zu erfahren, wieso scheinbar jeder besser darüber Bescheid wusste als ich.
"Ich war derjenige, der damals deine Nummer von Thomas Handy gelöscht hat". Ich hatte es bereits vermutet, doch es nun aus seinem Mund zu hören, war etwas ganz anderes.
"Aber wieso?", der vorwurfsvolle Tonfall ließ Jake kaum merklich zusammenzucken. Er seufzte und ich wartete, dass er weiter sprach.
"Ich wusste, dass die Person hinter dieser Nummer in irgendeiner Art und Weise wichtig sein würde, doch ich hatte, ebenso wie die anderen, keine Ahnung wer dahinter steckte. Bevor ich also zulassen konnte, dass eine weitere Person in all das involviert wird, musste ich herausfinden, mit wem wir es zutun haben". Ich richtete mich auf und stützte mich auf die Ellenbogen, um ihm anzusehen.
"Doch dazu kam es nicht", beendete ich seinen Satz und Jake schüttelte den Kopf. "Ich hatte Thomas unterschätzt. Niemals hätte ich geahnt, dass er sich deine Nummer so schnell merken würde, schließlich hatte ich die Nachricht bereits nach wenigen Minuten von seinem Telefon gelöscht". Ich sah ihn aufmerksam an und nickte kaum merklich, um ihm zu bedeuten, dass er weitersprechen sollte. Auch mir war es damals schwer gefallen, zu glauben, dass sich meine Nummer scheinbar so in sein Gehirn gebrannt hatte.
"Dass Thomas dich zur Gruppe hinzufügte, bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, verkomplizierte die Sache, doch es war zu spät gewesen, um es zu verhindern. Ich muss zugeben, dass es mir in erster Linie darum ging, Lilly zu schützen. Nachdem, was wir wussten, hätte hinter dieser Nummer durchaus der Entführer stecken können. Ich wollte nicht, dass auch meine andere Schwester in seinen Fokus rückt". Ich verstand, dass er bloß versucht hatte, seine Familie zu beschützen, doch das rechtfertigte noch lange nicht, wieso er mich die ganze Zeit über hatte im Dunkeln tappen lassen.
"Das ich Teil der Gruppe wurde, hat aber nicht verhindert, dass du Nachforschungen über mich anstellst, denn das hast du getan, oder?". Der Ausdruck, der nun über sein Gesicht huschte, bestätigte meine Vermutung. "Ja, das habe ich. Es war erstaunlich schwer, etwas über dich in Erfahrung zu bringen, weil du nie lange am selben Ort gelebt hast", er sah mich mitleidig an, während er das sagte. "Nichts, was ich herausfand deutete darauf hin, dass du in irgendeiner Weise an Hannahs Verschwinden beteiligt sein könntest, doch ich traute dir nicht. Ich beschloss also, das Ganze selbst in die Hand zu nehmen, und nahm Kontakt zu dir auf". Es war nicht seine Absicht gewesen, doch seine Worte trafen mich mehr, als ich zugeben mochte. "Ich war also auch für dich von Anfang an bloß eine weitere Verdächtige gewesen, bloß ein Mittel zum Zweck, um Hannah zu finden?", brachte ich leise hervor und sofort schüttelte Jake den Kopf. "Nein.. so war das nicht. Zu Beginn.. ja vermutlich war es so, aber ich war mir schon nach kurzer Zeit sicher, dass du nichts mit alledem zutun hattest, das musst du mir glauben. Ich betrachtete das ganze als Chance, du verstandest dich gut mit den anderen und du vertrautest mir. Außerdem warst du klug und hattest eine neutrale Sicht auf die Dinge. Das machte es einfach. Zumindest, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich nachlässig wurde. Ich hätte niemals gedacht, dass..", er ließ den Satz unbeendet, doch ich wusste, was er meinte. Er hätte niemals gedacht, dass wir uns ineinander verlieben würden. Dasselbe galt für mich. Rückblickend hatte er recht. Unsere Gefühle füreinander hatten die Suche nach Hannah mehr als einmal erschwert. Keiner von uns war bereit gewesen, den anderen auch nur der geringsten Gefahr auszusetzen.
"Du hast etwas in mir zum Leben erweckt, von dem ich dachte, es wäre für immer verloren. Ich vertraute dir, doch ich war neugierig. Du fasziniertest mich und ich wollte mehr über dich erfahren. Also fing ich an, tiefer zu graben. Als ich herausfand, wer deine Eltern waren.. glaub mir, ich war verzweifelt. Mir war sofort klar, dass du keine Ahnung hattest und ich wollte dich nicht anlügen, doch ich fand, dass es mir nicht zustand, mich so sehr in dein Privatleben einzumischen. Je näher wir uns kamen, desto schwerer fiel es mir, Stillschweigen zu bewahren. Und nachdem du deine eigene Sicherheit riskiert hattest, um mich vor meinen Verfolgern zu retten, da wollte ich mit offenen Karten spielen. Es wurde immer ernster zwischen uns und ich wollte nicht, dass ein solches Geheimnis zwischen uns steht..". Jake unterbrach seinen Redefluss und sah mich an, doch sein Blick verriet nichts. Er war nervös, keine Frage, für gewöhnlich war er nicht sonderlich gesprächig und es schien, als würde er sich nun endlich all die Schuldgefühle von der Seele reden. "Was hat dich davon abgehalten, es mir zu sagen? Immerhin warst du derjenige, der mir riet, Jessy die Wahrheit über Richy zu erzählen. Du sagtest, manchmal seien schlechte Nachrichten erträglicher, wenn sie von einer vertrauen Person kämen". Noch während ich sprach, traf mich die Erkenntnis. Jake hatte mir diesen Rat damals nicht ohne Grund gegeben. "Das hast du zu mir gesagt, weil du es bereits wusstest, hab ich Recht? Du hast von dir und mir gesprochen, oder?". Sein Nicken bestätigte meine Vermutung.
"Ich wollte es dir sagen. Gleich nachdem ich zurückgekehrt war, doch der Angriff auf Richy zerschlug mein Vorhaben". Augenblicklich erschienen diejenigen Bilder vor meinem inneren Auge, die ich seitdem so gut es ging versucht hatte, zu verdrängen. Die lähmende Angst, die ich empfunden hatte, als ich geglaubt hatte, Richy sei tot, würde ich niemals vergessen können. Umso dümmer kam ich mir vor, nun da ich wusste, dass nichts davon echt gewesen war. Er hatte zugelassen, dass ich und die anderen um ihn trauerten, obwohl er hinter all dem gesteckt hatte.
"Ich musste davon ausgehen, dass er wirklich tot ist. Ich wusste, wie unglücklich es dich gemacht hätte, die Wahrheit unter solchen Umständen zu erfahren, also beschloss ich, es dabei zu belassen". Sanft strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte eine Träne fort, von der ich nicht einmal bemerkt hatte, dass sie da war. Ich verstand nun, warum Jake mir nichts gesagt hatte. Auch wenn ich es nicht gern zugeben mochte, ich hätte an seiner Stelle vermutlich ähnlich gehandelt. Wie sagt man jemandem, den man kaum kennt und für den man Gefühle entwickelt hat, dass sein ganzes Leben eine Lüge war? Die Vorstellung, ich hätte damals erfahren, dass ich zugesehen hatte, wie mein eigener Bruder vor meinen Augen starb.. ich hätte mich wahrscheinlich nie davon erholt.
"Deshalb wolltest du nicht, dass ich ihn besuche. Du hattest Angst, ich würde die Wahrheit erfahren, oder?", fragte ich vorsichtig. Langsam schloss sich der Kreis. Jakes Reaktion darauf, dass Richy verantwortlich für Hannahs Entführung gewesen war, hatte für mich bereits keinen Sinn ergeben. Als ich es ihm erzählt hatte, hatte ich erwartet, dass er wütend oder gar schockiert sein würde, stattdessen hatte er keine Miene verzogen und seine übliche, sachliche Maske aufgesetzt. Nun verstand ich auch wieso. Wie hätte er meinen Bruder für ein solches Verbrechen hassen können, wenn seine eigene Schwester verantwortlich für den Tot eines Mädchens gewesen war? Was das anging, saßen Jake und ich im selben Boot.
"Du hattest bereits genug durchgemacht", riss er mich aus meinen Gedanken. "Du warst gerade dabei, wieder auf die Beine zu kommen und ich wusste, dass das etwas ist, wovor ich dich nicht beschützen kann". Ein frustrierter Ausdruck trat auf sein Gesicht. Jake hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich zu beschützen, komme was wolle, doch wir beide wussten, dass es Dinge gab, auf die wir keinen Einfluss haben. Ich hasste es, dass Jake sich um mich sorgte, doch mir war klar, dass ich meinen Teil dazu beigetragen hatte. Nach seinem Verschwinden hatte ich den starken, kämpferischen Teil von mir aufgegeben. Es war an der Zeit, mein altes Ich zurückzuholen. In diesem Moment beschloss ich, dass ich von nun an keine Belastung mehr für Jake oder meine Freunde darstellen würde. Ich würde kämpfen, für sie und das Leben, welches ich mir wünschte.
Wenn meine Vergangenheit mich eines gelehrt hatte, dann, dass Schmerz mich bloß stärker machte. Die vergangen Monate hatten mich unbesiegbar gemacht. Zumindest hoffte ich es, denn der Kampf war noch längst nicht vorüber.

Duskwood - The things we lost in the fire Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt