Als ich am nächsten Morgen erwachte, spürte ich, das etwas anders war. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nahm ich die Abwesenheit meiner Angst war. Morgen für Morgen war ich aufgewacht, nur um bereits auf die nächste schlechte Nachricht zu warten. Zu sehr hatte ich mich dem Schicksal hingegeben und jegliche Verantwortung von mir gewiesen. Doch damit sollte nun endlich Schluss sein. Natürlich saß die Enttäuschung noch immer tief, doch ich hatte beschlossen, mich von all den Ereignissen der Vergangenheit nicht länger unterkriegen zu lassen.
Ich war also aufgestanden, unter die Dusche gesprungen und hatte mich bereits für den Tag fertig gemacht, als mein Handy mir einen eingehenden Anruf von Jessy anzeigte. Um Jake, der bereits in seine Arbeit vertieft war, seit ich aufgewacht war, nicht zu stören, ging ich nach Nebenan ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir.
"Hey Jess, was gibt's?", fragte ich und merkte dabei selbst, wie ungewohnt ausgelassen ich klang. Auch Jessy schien es zu bemerken, denn sie zögerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach.
"Hi Y/N! Ich wollte hören, wie es dir geht, immerhin haben wir uns schon seit ein paar Tagen nicht gesehen", tastete sie sich vorsichtig heran. Mir war sofort klar, dass sie nicht einfach nur so angerufen hatte, doch ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen.
"Tut mir wirklich leid, ich war in den letzten Tagen ziemlich beschäftigt, aber es ist alles in Ordnung. Wenn es dir passt, könnte ich vor meiner Schicht in der Aurora bei dir vorbeischauen?", schlug ich vor. Jessy hatte jedoch bereits andere Pläne.
"Was hältst du davon, wenn ich gleich vorbei komme? Wir könnten zusammen frühstücken und anschließend ein bisschen shoppen gehen". Damit hatte ich absolut nicht gerechnet, weswegen ihr Vorschlag mich kurzzeitig aus dem Konzept brachte. Mir blieb nicht viel Zeit, um mir eine Ausrede einfallen zu lassen, weshalb es unmöglich war, dass Jessy zu mir in die Wohnung kam. Wenn ich erst einmal den Verdacht in ihr weckte, dass irgendetwas nicht stimmte, würden keine zehn Pferde es schaffen, Jessy aufzuhalten, das hatte die Vergangenheit mir bereits deutlich gezeigt.
"Das klingt toll! Aber wollen wir uns nicht lieber im Café Regenbogen treffen? Für deren Pancakes würde ich heute töten", scherzte ich, damit Jessy mein Ablenkungsmanöver nicht bemerkte. Zu meiner Erleichterung sprang sie sofort darauf an, sodass ich bereits zwanzig Minuten später auf dem Weg zum Café war. Noch immer fiel es mir schwer, Jake allein zurückzulassen. Auch wenn er mir mehrfach versichert hatte, dass es wichtig für unsere Tarnung sei, dass ich mich so normal wie möglich verhielt, konnte ich das ungute Gefühl in meiner Magengegend einfach nicht abschütteln. Die ständige Ungewissheit, nicht zu wissen, ob er noch da war, wenn ich zurückkam, belastete mich mehr als ich zugeben mochte. Jake gegenüber verlor ich natürlich kein Wort darüber, immerhin machte er sich schon genug Vorwürfe. Abgesehen davon machte ich mir keine Sorgen darum, dass er mich verlassen würde, zumindest nicht aus freien Stücken. Seinen Verfolgern war es nun schon ein zweites Mal gelungen, uns von einander zu trennen und ich wollte um jeden Preis verhindern, dass es jemals wieder dazu kommen würde. Was es auch kosten würde.Das Treffen mit Jessy verschaffte mir eine dringend notwendig gewesene Verschnaufpause von meinen Sorgen. Sie erzählte mir von Dans neuem Job. Offenbar hatte er vor ein paar Tagen bei einem Kurierdienst angefangen, was Jessy als gutes Zeichen deutete, da es für Dan auch nicht unüblich sei, bereits nach wenigen Stunden das Handtuch zu werfen. So ausgelassen Jessy auch mit mir plauderte, ich spürte trotzdem, dass uns noch ein ganz anderes Gespräch bevor stand. Da ich aber bereits ahnte, dass Jessy das gemeinsame Frühstück und den geplanten Shoppingtrip nutzen wollte, um ein unangenehmes Thema mit mir zu besprechen, beschloss ich, ihr Spiel mitzuspielen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich liebend gern eine Auszeit von all den unerfreulichen Ereignissen um mich herum gemacht, doch wie üblich hatte das Leben, oder in diesem Fall Jessy, andere Pläne mit mir. Es dauerte nicht lange, bis sich meine Vermutung bestätigte. Was das anging, war Jessy einfach ein offenes Buch. Wir hatten erst vor kurzem das mittlerweile dritte Geschäft betreten und Jessy war mit einem Stapel Klamotten in der Umkleide verschwunden. Kaum hatte sie den Vorhang hinter sich zugezogen und somit eine Art Schutzwall zwischen uns errichtet, hinter dem sie sich sicher genug fühlte, platzte es schließlich aus ihr heraus.
"Hör mal Y/N.. es gibt da noch etwas, worüber ich mit dir sprechen wollte. Du musst auch gar nichts dazu sagen, wenn du nicht möchtest, aber ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen.."
Einen Moment herrschte Schweigen auf beiden Seiten des Vorhangs. Ich wusste nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte, immerhin war mir noch nicht ganz klar, worauf Jessy hinaus wollte und ich wollte verhindern, versehentlich etwas ganz anderes preiszugeben.
"Was meinst du damit?", fragte ich vorsichtig und der leicht nervöse Unterton in meiner Stimme war, trotz meiner Bemühen, deutlich zu hören.
Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie meine Frage beantwortete, beinahe als wäre sie sich nicht mehr sicher, ob es nicht klüger wäre, das Ganze ruhen zu lassen.
"Weißt du.. Phil hat mich heute morgen angerufen", fuhr sie schließlich doch fort. Verräter, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Nun ergab es natürlich Sinn, warum Jessy auf ein Treffen bestanden hatte. Wenn Phil ihr von meinem gescheiterten Versuch, meine Sorgen erneut in Alkohol zu ertränken, erzählt hatte, hatte er damit vermutlich sämtliche Alarmglocken bei ihr schrillen lassen. Ich konnte also bloß hoffen, dass er wenigstens soviel Diskretion besaß, dass die Lawine, die er nun losgetreten hatte, nicht meinen gesamten Freundeskreis erreicht hatte.
Ich schwieg, ohne zu wissen, wie ich darauf reagieren sollte. Ich war nicht wütend auf Phil, immerhin konnte ich seine und auch Jessys Besorgnis verstehen, doch das machte in diesem Moment für mich alles bloß noch schwieriger.
"Ich möchte bloß wissen, ob ich mir Sorgen machen muss", fuhr Jessy fort, als sie sich sicher war, dass ich nicht reagieren würde. Vorsichtig steckte sie den Kopf durch den Vorhang und sah mich mitfühlend an. "Wird es wieder schlimmer? Ich hatte den Eindruck, dass es dir endlich etwas besser ginge.. Wenn es noch immer wegen Jake ist..", setzte sie an, doch ich unterbrach sie.
"Nein", entfuhr es mir ein wenig zu heftig. "Das ist es nicht.. ich hatte einfach gestern keinen guten Tag", wich ich ihrer Frage aus, doch der Ausdruck, der sich nun auf Jessys Gesicht abzeichnete, zeigte mir deutlich, dass sie sich damit nicht zufrieden geben würde. Ich seufzte und beschloss, dass ich es ihr auch genauso gut erzählen konnte. Zumindest die halbe Wahrheit..
"Ich war gestern im Gefängnis und habe Richy besucht", brachte ich schließlich leise hervor. So schwer es mir auch fiel, über ihn zu sprechen, es war kein Vergleich zu Jessys Reaktion. Sämtliche Farbe wich schlagartig aus ihrem Gesicht und in ihren aufgerissenen Augen sammelten sich bereits die ersten Tränen. Ich kannte Jessy bereits ziemlich lange und doch überraschte es mich, dass es entgegen meiner Erwartungen scheinbar keine Tränen der Trauer waren. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben und sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen.
"Was?", war alles, was sie ungläubig hervorbrachte, ehe sie den Vorhang nun vollständig beiseite schob und mit verschränkten Armen vor mir stand.
"Jessy.. es tut mir leid.. ich weiß ich hätte dir davon erzählen müssen, aber ich wollte dich nicht beunruhigen. Die Sache mit Richy hat bei uns allen ihre Spuren hinterlassen und ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde.."
Sie sah mich bloß entgeistert an, dann verschwand sie wieder in der Kabine und zog den Vorhang hinter sich zu.
"Jessy bitte..", flehte ich sie beinahe an. Das letzte was ich wollte, war Streit mit einer meiner besten Freundinnen. Um ehrlich zu sein, hatte ich eine solche Reaktion von ihr nicht erwartet, auch wenn sie vermutlich längst überfällig gewesen wäre. Ich hatte Jessy hintergangen, indem ich sie ausgeschlossen hatte. Wenn sie bloß gewusst hätte, was im Gefängnis wirklich passiert war.. aber ich war noch nicht bereit dazu, ihr die Wahrheit zu sagen. Zerknirscht wartete ich vor der Kabine auf Jessy, die bereits wenige Minuten später heraus kam, und die Kleidungsstücke zurück hängte, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
"Jessy, rede mit mir, bitte", sagte ich, während ich ihr hinterher in Richtung Ausgang eilte.
Gerade als wir den Laden verlassen hatten, packte ich sie am Arm und drehte sie zu mir herum. Der Blick, mit dem sie mich nun ansah, ging mir durch Mark und Bein. Sie war sauer, keine Frage, doch da war noch etwas anderes. Ich hatte ihr Vertrauen missbraucht und erneut hinter ihrem Rücken einen Alleingang gestartet, nachdem sie in den vergangenen Monaten immer wieder alles für mich getan hatte.
"Kannst du dir vorstellen, wie sich das für mich anfühlt, Y/N? Ich war von Anfang an immer ehrlich zu dir! Und du? Ich dachte du wärst meine beste Freundin, doch scheinbar sind dir all deine Geheimnisse, die du noch immer vor uns allen hast, wichtiger als alles andere", ihre Stimme zitterte, während sie mich beinahe anschrie.
"Nein Jessy, so ist das nicht..". Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Alles was sie gesagt hatte war wahr. Ich würde ihr nie die ganze Wahrheit erzählen können, ohne mich oder Jake in Gefahr zu bringen. Das war ihr und auch allen anderen gegenüber nicht fair und das wusste ich.
"Doch Y/N, genau so ist es und so wird es immer sein".
Mit diesen Worten ließ sie mich stehen. Wie gelähmt sah ich ihr nach, wie sie die Straße hinunter eilte und zwischen den anderen Leuten verschwand.
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Duskwood - The things we lost in the fire
Hayran KurguDiese Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Spiel "Duskwood" von Everbyte. Meine Geschichte beginnt im Anschluss an Episode 10. Mir gehören weder die Figuren noch die ursprüngliche Idee des Spiels. Es handelt sich hierbei lediglich um eine Fanfic...