Der selbe Wachmann wie zuvor begleitete mich zurück, wo mir meine Sachen ausgehändigt wurden. Ohne ein weiteres Wort verließ ich das Gefängnis. Ich war wie in Trance und konnte das, was gerade geschehen war, einfach nicht begreifen.
An meinem Auto angekommen, zitterten meine Hände so sehr, dass es mir zunächst unmöglich war, die Tür aufzuschließen. Als ich es schließlich doch schaffte, ließ ich mich kraftlos auf den Sitz sinken. Meine Finger umklammerten das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel bereits weiß hervortraten. In meinem Kopf herrschte das totale Chaos. Tausende Gedanken und Fragen rauschten mir gleichzeitig durch den Kopf, doch ich war viel zu aufgebracht, um auch nur ansatzweise klar zu denken. Die vergangene Stunde fühlte sich wie ein Albtraum an, aus dem ich nicht erwachen konnte. Ich war mit der Erwartung in dieses Gefängnis gekommen, meinem Freund beizustehen und Erklärungen von ihm zu bekommen. Stattdessen hatte er mir Antworten geliefert, von denen ich selbst nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie jemals bekommen würde. Plötzlich ergab nichts mehr einen Sinn, denn alle Gespräche, die ich jemals mit Richy geführt hatte, bauten einzig und allein auf einem Haufen Lügen auf.
Richy war mein Bruder. Allein beim Gedanken daran wurde mir übel. Mein ganzes Leben lang war ich allein gewesen, hatte niemanden gehabt, der auf mich aufgepasst hatte, geschweige denn, sich um mich gesorgt hätte, während er von seinen beiden Eltern aufgezogen worden war. Unseren beiden Eltern. Die Tatsache, dass sie mich weggegeben hatten, während mein Bruder bleiben durfte, zerriss mich. Ich versuchte nicht, ihre Entscheidung zu verstehen, denn das wollte ich gar nicht. Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich ihretwegen durch die Hölle gegangen war. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir eingeredet, dass es so besser war, dass meine Eltern vielleicht irgendwelche Junkies gewesen waren und es mich hätte viel schlimmer treffen können. Nichts davon war wahr gewesen. Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge und sollte ich jemals auf meine leiblichen Eltern treffen, würde meine eigene Mutter vermutlich nicht einmal mehr wissen, dass ich jemals existiert hatte.Meine Tränen waren in dem Moment versiegt, in dem ich den Besucherraum verlassen und somit Richy hinter mir gelassen hatte, doch nun stand ich so sehr unter Anspannung, dass mein ganzer Körper zu beben begann. All die Gefühle, die dieses Gespräch in mir ausgelöst hatte, prasselten unaufhörlich auf mich ein. Ich konnte all das nicht länger ertragen, wollte nichts fühlen, wollte bloß, dass es endlich aufhörte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, startete ich den Wagen und fuhr los. Mir war klar, dass die Entscheidung, die ich nun traf, Konsequenzen mit sich ziehen würde, doch es kümmerte mich nicht. Mit diesem Problem würde ich mich später befassen.Ich parkte meinen Wagen hinter der Aurora und stieg aus. Während der Fahrt hatte ich immer wieder versucht an meine Vernunft zu appellieren und lieber doch nach Hause zu fahren, doch dazu war ich noch nicht in der Lage gewesen. So sehr ich mich auch danach sehnte, Jake besonders jetzt in meiner Nähe zu haben, ich war einfach noch nicht bereit dazu. Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen und mich fragen müssen, wie viel er über all das gewusst hatte. Jake hatte es damals selber gesagt. Er hatte Informationen über jeden aus der Gruppe und ich war nicht so dumm, zu glauben, dass ich dabei eine Ausnahme darstellte. Daraus ergab sich für mich nur eine Frage: Hatte Jake die ganze Zeit über gewusst wer ich war?
Um zu verhindern, dass ich erneut die Fassung verlor, kramte ich in meiner Tasche nach meinem Schlüssel für die Aurora und trat schließlich ein.Phil war noch nicht da, was mich zu dieser Uhrzeit allerdings auch nicht weiter überraschte und mir darüber hinaus auch äußerst gelegen kam. Es war erst Mittag und so würde ich vermutlich noch ein paar Stunden für mich haben.
Der vertraute Geruch von Holz, Alkohol und Putzmittel drang mir in die Nase. Die Aurora war für mich mittlerweile nicht mehr bloß mein Arbeitsplatz, sie war auch zu einer Art Rückzugsort vor meinen Problemen geworden. Bereits zum zweiten Mal fand ich mich an einem der schlimmsten Tiefpunkte meines Lebens dort wieder und suchte Abstand; von meinem Leben, meinen Gefühlen und den Menschen, die sie in mir auslösten. Natürlich wusste ich noch, wie es beim letzten Mal geendet war, doch ich wusste mir nicht anders zu helfen. Ich brauchte etwas, was mir den Schmerz nahm. Abgesehen davon hatte ich mich unter Kontrolle, ich kannte meine Grenzen und brauchte lediglich eine Pause.Die gewünschte Wirkung trat schneller ein als erhofft, allerdings schaffte der Rausch, den ich fühlte, es nicht, meine Gefühle zu vernebeln. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in mir aus und ein dichter Nebel verschleierte meine Gedanken, doch das Gefühl beraubt worden zu sein, verschwand nicht. An diesem Tag hatte Richy mir mit der Wahrheit, die ich niemals erfahren wollte, meine Vergangenheit und meine Identität genommen. Wer war ich schon, wenn nicht einmal meine eigenen Eltern mich gewollt hatten? Doch damit war der Teufelskreis noch lange nicht durchbrochen. Alles, was seit der Nachricht von Thomas passiert war, basierte auf dieser Lüge. Richy hatte mich in die Gruppe geholt und zugelassen, dass ich mich mit seinen Freunden anfreundete. Sie alle kannten ihn schon viele Jahre, dasselbe galt vermutlich für unsere Eltern. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Eindringling in einem Freundeskreis, der nie für mich bestimmt gewesen war. Und dann war da noch Jake. Alles was wir durchgemacht hatten, die Angst und der Schmerz; all das nur, weil Richy eine Entscheidung für mich getroffen hatte. Natürlich änderte nichts von alldem etwas daran, was ich für Jake oder die anderen empfand. Mir war auch klar, dass Jake vermutlich der Einzige war, der meine Situation verstehen konnte, der wusste, wie ich mich fühlte; immerhin hatte er wegen seines Vaters ähnliches erlebt. Und doch ließ mich das Gefühl nicht los, dass er wusste, was los war. Warum sonst hätte er solche Bedenken wegen meines Besuches bei Richy haben sollen?
Ich sah auf mein Handy, was mir jedoch keine Benachrichtigungen anzeigte. Was hatte ich auch anderes erwartet? Es wäre viel zu riskant, würde Jake mir auch nur eine einzige Nachricht schicken.Gerade als ich dabei war, mir erneut nachzuschenken, hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür hinter mir geöffnet wurde. Unbeeindruckt warf ich einen Blick über die Schulter und sah, dass Phil mich verdutzt ansah.
"Dich habe ich hier ehrlich gesagt nicht erwartet. Wenn ich mich nicht irre, ist heute dein freier Tag", begann er das Gespräch und kam auf mich zu. Ich hingegen zuckte bloß mit den Schultern und wandte mich wieder meinem Glas zu. "Keine Sorge, ich bin auch nicht zum arbeiten hier", antwortete ich ihm, hob demonstrativ mein Glas und prostete ihm zu.
"Vergiss es, auf keinen Fall". Phil trat neben mich an die Theke und schob die Wodka-Flasche soweit von mir weg, dass ich sie nicht mehr erreichen konnte. "Das letzte Mal ist noch gar nicht so lange her und auf eine Wiederholung würde ich wirklich gern verzichten", fuhr er fort. Er versuchte witzig zu sein, doch als ich nicht reagierte, zog er den Hocker neben mir zurück und setzte sich zu mir. Ich vermied es ihn anzusehen und er lehnte sich mit den Armen auf die Theke.
"Möchtest du mir verraten, was passiert ist?", fragte er vorsichtig. Noch immer wich ich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf, ehe ich den letzten Schluck aus meinem Glas trank.
"Y/N, das ist jetzt das zweite Mal, dass ich dich so.. zerrissen erlebe. Beim letzten Mal habe ich zugelassen, dass du dich völlig betrunken und dabei fast selbst verloren hast, weil ein Kerl dir das Herz gebrochen hat. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen. Ich betrachte dich mittlerweile als gute Freundin, also verzeih mir bitte, dass ich mir Sorgen um dich mache", fuhr er fort. Noch nie zuvor hatte Phil mich auf meinen Zusammenbruch angesprochen, es war ihm also wirklich ernst. Ich seufzte und ließ mein Gesicht in meine Hände sinken. "Es ist nicht wie beim letzten Mal, Phil. Es ist nicht seinetwegen". Noch immer vermied ich es, Jakes Namen in Gegenwart der anderen zu benutzen, doch mir war klar, das Phil wusste, von wem ich sprach. Zögernd legte er mir seine Hand auf die Schulter.
"Du kannst mit mir reden", erwiderte er ruhig. Ich spürte, wie erneut Tränen in mir aufstiegen und so sehr ich auch versuchte, sie zu unterdrücken, es gelang mir nicht. Mit verschleiertem Blick sah ich Phil an.
"Ich weiß, aber ich kann nicht. Ich muss das alles selbst er verstehen und ich bin noch nicht bereit, darüber zu sprechen". Einen Augenblick war es still zwischen uns, bis Phil schließlich ein leises "Okay" flüsterte. Damit war unser Gespräch vorerst beendet. Phil respektierte meine Entscheidung, reichte mir ein Glas Wasser und blieb solange schweigend neben mir sitzen, bis ich bereit war, nach Hause zu gehen. Er bot mir an, mir auch für den nächsten Abend frei zu geben, wenn mir nicht nach Arbeiten war, doch ich lehnte dankend ab. Wenn mir etwas helfen würde, dann vermutlich so viel Normalität, wie möglich.
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Duskwood - The things we lost in the fire
FanfictionDiese Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Spiel "Duskwood" von Everbyte. Meine Geschichte beginnt im Anschluss an Episode 10. Mir gehören weder die Figuren noch die ursprüngliche Idee des Spiels. Es handelt sich hierbei lediglich um eine Fanfic...