Kapitel 30

279 20 11
                                    

"Richy, du machst mir Angst. Sag mir bitte endlich, was los ist", flehte ich ihn beinahe an. Sein Blick war von Traurigkeit gezeichnet als er nickte und schließlich begann, mir die ganze Geschichte zu erzählen. Rückblickend hätte ich besser aufstehen und gehen sollen, ohne je zurückzublicken. Doch ich bin geblieben.
"Nachdem du geboren wurdest, haben deine leiblichen Eltern dich abgegeben. Du wurdest einer Pflegefamilie übergeben, die dich schon bald adoptieren sollte. Ich weiß, dass deine Eltern diese Entscheidung für dich trafen, weil es ihnen selbst nicht möglich war, dich großzuziehen".
Während er sprach fuhr er sich aufgebracht durch die Haare. Ich hingegen war wie gelähmt. Mit seinen Worten hatte Richy eine sehr alte Wunde in mir ausgerissen. Meine Vergangenheit und insbesondere meine Kindheit waren Themen, von denen ich mir selbst geschworen hatte, sie möglichst für immer totzuschweigen. Nun kam alles wieder in mir hoch. Meine Seele blutete und ich wusste nicht, ob ich mich je wieder davon erholen würde.
Woher auch immer Richy dachte diese Informationen zu haben, er irrte sich. Ja, ich wurde nach meiner Geburt einer Pflegefamilie übergeben, aber diese Leute haben mich nicht adoptiert und erst recht nicht großgezogen.
Ich wusste nicht genau, was geschehen war, denn meine erste richtige Erinnerung begann erst Jahre später.
Gemeinsam mit meiner Kindergärtnerin stand ich unter dem Dach im Eingangsbereich des Kindergartens. Es regnete und ich erinnerte mich daran, dass alle anderen Kinder bereits abgeholt worden waren. Die Erzieherinnen hatten versucht, meine Eltern zu erreichen, doch meine damalige Pflegemutter war erst nach dem fünften Versuch rangegangen. Sie hatte mich vergessen und es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass dies passierte. Ich war damals vier und bereits in meiner dritten Pflegefamilie.
"Du hast ja keine Ahnung, wovon du da redest", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während bereits erste, heißte Tränen in meinen Augen brannten.
"Y/N..", setzte er an, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
"Denn dann wüsstest du, dass ich niemals adoptiert wurde. Ich wurde weitergereicht wie ein kaputtes Spielzeug, was niemand haben wollte. Das hörte erst auf, als ich achtzehn wurde und ich endlich meine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Also tu nicht so, als hättest du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe, als wüsstest du, wer ich bin".
Nun war Richy derjenige, der mich mit weit aufgerissenen Augen fassungslos ansah.
"Was weißt du über meine leiblichen Eltern, Richy? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Monaten und nicht einmal ich weiß das Geringste über sie", diesmal klang meine Stimme weniger wütend. Sie bebte und ich klang, als würde ich jeden Moment zusammenbrechen.
"Ich weiß wer deine Eltern sind, weil es auch meine sind, Y/N".

Ich konnte mich nicht rühren, nichts sagen oder auch nur einen klaren Gedanken fassen. In meinen Ohren begann es zu klingeln und das Blut rauschte so schnell durch meinen Körper, dass mir augenblicklich unerträglich heiß wurde. Panik stieg in mir auf und ich spürte, dass mein Atem nur noch stoßweise ging. Das war nicht die Wahrheit, es durfte einfach nicht wahr sein. Richy log mich an, das war die einzig logische Erklärung. Immerhin hatte er mich schon einmal belogen. Doch so sehr ich mir das auch versuchte einzureden, tief in mir wusste ich, dass es stimme. Ich sah es in seinen Augen und der flehende Blick mit dem er mich ansah, ließ keinen Zweifel daran.
"Ich war damals fünf", fuhr Richy schließlich fort als ich nicht reagierte. "Bereits damals zeigten sich erste Anzeichen der Demenz meiner Mutter. Immer häufiger vergaß sie Dinge, ihr Zeitgefühl wurde schlechter und sie wurde unruhiger. Deswegen fiel es meinen Eltern auch erst so spät auf, dass sie noch ein Kind erwarteten. Es war zu spät, um alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, nicht dass Mum sich je darauf eingelassen hätte. Erst dachten sie, sie könnten es schaffen, doch durch die Schwangerschaft war es meiner Mutter nicht möglich, die notwendigen Medikamente zu nehmen, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Es wurde immer schlimmer und schließlich fühlten sie sich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen". Er sah mich an, wartete auf eine Reaktion, doch ich saß einfach nur da, Tränen liefen über meine Wangen und ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Ich weiß noch, dass ich eines Tages von einem Besuch bei Verwandten nach Hause kam. Der Bauch meiner Mutter war viel kleiner als zuvor und mein Vater erklärte mir, dass meine kleine Schwester sehr krank gewesen und sie deshalb nun im Himmel sei. Erst viele Jahre später erfuhr ich die Wahrheit. Dad erzählte mir, dass du adoptiert wurdest, weil er es nicht geschafft hätte, sich um unsere Mutter zu kümmern und dabei mich und ein Baby großzuziehen". Mir fiel auf, dass er zum ersten Mal von "unserer Mutter" sprach, doch ich schaffte es nicht, irgendetwas zu sagen. Alles in mir schrie danach, der Situation zu entfliehen und all das hier zu vergessen, doch es war, als hätte ich meinen Körper verlassen und würde von oben auf uns herabsehen.
"Wir hatten einen furchtbaren Streit. Ich konnte seine Entscheidung nicht verstehen und ich machte ihm Vorwürfe. Das tue ich noch heute. All die Jahre hatte er mich glauben lassen, dass meine Schwester.. dass du tot bist. Seit diesem Tag war unser Verhältnis sehr angespannt. Später machte ich mich auf die Suche nach dir. Ich setzte alle Hebel in Bewegung und fand schließlich deine Nummer heraus, doch ich schaffte es nicht, dich zu kontaktieren. Erst als die Sache mit Hannah außer Kontrolle geriert, fand ich den Mut, dich einzubeziehen. Ich wollte dich unbedingt kennenlernen, Y/N und hatte Angst, dass das vielleicht meine letzte Gelegenheit dafür war. Ich dachte, wir würden eine Bindung zueinander aufbauen, wenn ich dich in die Gruppe einschleuse. Ich redete mir ein, dass mir das würde, dass es besser wäre, wenn du die Wahrheit nicht erfahren würdest, aber jetzt kann ich dich einfach nicht länger belügen".
Nun sammelten sich auch in Richys Augen Tränen. Vorsichtig griff er über den Tisch nach meiner Hand, doch damit löste er meine Starre. Ich entzog sie ihm und funkelte ihn wütend an, noch immer weinte ich.
"Y/N, bitte..", flehte Richy, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er hatte genug gesagt.
"Nein!", sagte ich bestimmt, doch bei meinen nächsten Worten brach meine Stimme. "Wie konntest du mir das nur antun?". Es gab so vieles, was ich ihm gern gesagt hätte, doch keine Worte dieser Welt hätten jemals ausdrücken können, wie verletzt und verloren ich mich fühlte. All die Jahre hatte ich geglaubt, zu wissen, wer ich war und dass es egal sei, woher ich kam. Doch nun hatte Richy mir den Boden unter den Füßen entrissen. Er hatte mir meine Identität genommen. Ich wusste weder, wer ich war, noch hatte ich eine Ahnung, wer da vor mir saß. Alles was ich geglaubt hatte, über Richy zu wissen, war eine einzige Lüge gewesen.
Zitternd schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.
"Bitte Y/N.. geh nicht", flüsterte Richy, doch ich schüttelte den Kopf. "Ich.. ich kann das hier nicht, ich muss sofort hier raus", stammelte ich, während ich rückwärts Richtung Ausgang stolperte. Richys schmerzverzerrtes Gesicht, während er mit den Fäusten auf den Metalltisch schlug, war das Letzte, was ich sah, bevor der Wachmann mich nach draußen führte und die Türen sich zwischen uns schlossen.

Duskwood - The things we lost in the fire Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt