Kapitel 14

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Jessy hatte es sich sofort zur Aufgabe gemacht, herumzutelefonieren und ihre Kontakte spielen zu lassen. Ich wollte zwar nicht, dass sie sich meinetwegen solch eine Arbeit machte, doch mein Bauchgefühl verriet mir, dass Jessy zur Zeit etwas brauchte, was sie ablenkte. Schließlich hatte sie gerade nicht nur ihren besten Freund verloren, sondern auch ihren Job und damit ihre eigene Existenzgrundlage. Wenn es ihr also half, mir ein Dach über dem Kopf zu organisieren, würde ich sie nicht davon abhalten, schließlich war ich selbst nicht dazu in der Lage, meine Angelegenheiten zu regeln.
Gegen Abend hatte sie tatsächlich etwas erreicht. Bereits am nächsten Morgen hatte Jessy eine Wohnungsbesichtigung vereinbart. Ich musste ihr versprechen, dass ich auch wirklich zur vereinbarten Uhrzeit erscheinen würde, erst dann war sie bereit gewesen, mich allein zu lassen. Natürlich war ich ihr dankbar, dass sie mir diese Aufgabe abnahm. Ich selbst hätte vermutlich auch in den nächsten Wochen nicht die Kraft dazu gefunden. Doch ehrlich gesagt ging mir all das ein wenig zu schnell, wofür Jessy natürlich rein gar nichts konnte. Ich lebte von Tag zu Tag und nun sollte ich mich für eine Wohnung entscheiden, in der ich vermutlich eine ziemlich lange Zeit meines Lebens verbringen würde. Ich wusste einfach nicht, ob ich dazu bereit war, schließlich war Beständigkeit nicht unbedingt etwas, woran ich gewöhnt war. Aber vielleicht hatte Jessy Recht und es würde mir besser gehen, wenn ich zumindest eine dauerhafte Bleibe hatte. Möglicherweise war es genau das, was ich brauchte, um mich selbst wieder zusammenzuflicken, auch wenn ich nicht recht daran glauben wollte.

Die Nacht verlief, ähnlich wie die vergangenen, recht schlaflos. Trotzdem hatte ich es geschafft, rechtzeitig aufzustehen und pünktlich am vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen. Ich hatte mich sogar bemüht, seriös auszusehen, immerhin sollten meine potentiellen Vermieter keinen schlechten Eindruck von mir bekommen. Ich wollte sie glauben lassen, dass ich mein Leben tatsächlich im Griff hatte.
Jessy wartete bereits auf mich und sie sah erleichtert aus, dass ich wirklich gekommen war. Ein wenig enttäuschte mich ihre Reaktion. Ich war vieles, aber unzuverlässig war ich noch nie gewesen.
Die Adresse, an der sich die Wohnung befand, lag ganz in der Nähe von dem Ort, an den ich Lilly damals geschickt hatte, als Jake verschwunden war. Ich schob den Gedanken beiseite und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, bevor ich ausstieg und auf Jessy zuging. Jetzt war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt um in schmerzhaften Erinnerungen zu schwelgen.
Gemeinsam warteten wir, bis schließlich eine ältere Dame auftauchte, welche sich als die Vermieterin der Wohnung vorstellte. Ihr Name war Ms. King und sie war schätzungsweise um die 60. Sie begrüßte uns herzlich und wir folgten ihr schließlich ins innere des Gebäudes. Ihre sympathische Art ließ mich augenblicklich entspannen, sodass ich der uns bevorstehende Besichtigung weniger missmutig entgegenblickte.
Die Wohnung befand sich im Dachgeschoss eines Wohnhauses mit drei Parteien. Laut Ms. King wohnten in diesem Haus ein älteres Ehepaar und ein junger Geschäftsmann, welchen man allerdings nicht allzu häufig zu Gesicht bekam, da er den Großteil seiner Zeit auf Reisen verbrachte. Beim Betreten der Wohnung fielen schließlich auch die letzten Zweifel von mir ab. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, doch ich hatte sofort das Gefühl, dass das mein Zuhause werden könnte. Jessy schien meine Reaktion zu bemerken, denn sie stupste mich leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und grinste mich vielsagend an.
Es gab zwei Zimmer und eine bereits vorhandene Einbauküche, was mir die Einrichtung der Wohnung erleichtern würde. Mein persönliches Highlight war jedoch die kleine Dachterrasse, die man über eine schmale Feuerleiter vom Wohnzimmer aus erreichen konnte. Laut der Vermieterin hatte nur diese Wohnung Zugang zu dieser Terrasse, sodass ich sie ganz für mich haben würde.
Entgegen meiner anfänglichen Bedenken musste ich zugeben, dass die Wohnung wirklich ein absoluter Traum war. Zwar war sie recht klein, doch absolut kein Vergleich zu meiner bisherigen Bleibe in Corfield. Es gab viele Fenster, sodass die Wohnung stets lichtdurchflutetet und hell war. Alles wirkte einladend und gemütlich und zum ersten Mal in den letzten Tage verspürte ich so etwas, wie Euphorie. Ich wollte diese Wohnung, soviel stand fest. Vielleicht war das hier der Neuanfang, von dem ich gedacht hatte, er wäre unerreichbar.
Umso größer war die Freude, sowohl bei mir als auch bei Jessy, als die Vermieterin mir im Anschluss an unsere Besichtigung die Wohnung anbot. Ich hatte ihr absichtlich nichts davon gesagt, dass ich erst vor Kurzem meinen Job verloren hatte, denn dann hätte ich die Wohnung mit Sicherheit nicht bekommen. Über die Bezahlung der Miete machte ich mir wenig Sorgen, da ich in den vergangenen Jahren genug gespart hatte, um mich auch in den kommenden Monaten ausreichend über Wasser halten zu können. Auf Dauer würde ich natürlich einen neuen Job finden müssen, doch das war ein Kampf für einen anderen Tag. In diesem Moment zählte nur, dass ich es dank Jessy geschafft hatte, die nächste Hürde in meinem Leben zu nehmen. Zwar konnte auch diese Wohnung die leere in meiner Brust nicht füllen, aber immerhin wurde mir so eine meiner Sorgen abgenommen.
Da die Wohnung bereits frei und ab sofort verfügbar war, überredete Jessy mich dazu, direkt mit dem Shoppen von neuen Möbeln zu beginnen. Und so machten wir uns, nachdem ich den vorläufigen Mietvertrag bereits unterzeichnet hatte und wir uns von meiner Vermieterin verabschiedet hatten, auf den Weg zum nächsten Möbelhaus. Kaum zu glauben, wie schnell alles ging, doch ich entschied mich dazu, die Glückssträhne zu genießen, solange sie anhielt.
Woher ich die Kraft nahm, ist mir noch immer schleierhaft, doch ich schaffte es tatsächlich mehrere Stunden mit Jessy nach verschiedenen Möbeln zu suchen, um mir meine neue Wohnung so gemütlich wie möglich einzurichten. Nicht nur, dass ich mir endlich den Traum von einem Boxspringbett erfüllte, auch die übrigen Möbel, wie verschiedene Schränke, Kommoden, ein Sofa und mehrere Beistelltischchen entsprachen endlich meinem eigenen Geschmack. Meine alte Wohnung hatte ich bereits möbliert übernommen, sodass sie nur wenig von meinem eigenen Stil widerspiegelte. Diesmal entschied ich mich für dunkle Möbelstücke im Industrial-Stil. Natürlich durfte auch ein großes Bücherregal nicht fehlen. Zwar hatte ich einen Großteil meiner Bücher zurücklassen müssen, doch meine Lieblingsstücke hatte ich stets bei mir und ich nahm mir vor, meine Sammlung schon bald wieder zu vergrößern. Auf ein Esszimmer verzichtete ich, nicht nur, weil mir schlichtweg der Platz dafür fehlen würde, sondern auch, weil ich einfach nicht der Typ für große Besuche war. Ich bevorzugte es lieber entspannt auf dem Sofa zu essen, weshalb auch ein Fernseher nicht fehlen durfte. Zwar sah ich nicht oft Fern, doch ich wollte mir selbst nicht die Möglichkeit nehmen, hin und wieder Filme und Serien zu schauen.
Dank Jessys Überzeugungstalent und eines zusätzlichen Bestechungsbetrages, den meine Kreditkarte beglich, schafften wir es tatsächlich, dass meine Möbel bereits am nächsten Tag geliefert werden sollten. Kleinere Dekoartikel und Dinge, wie Geschirr, Handtücher und weitere Notwendigkeiten verstauten wir direkt in unseren Autos. Dort würden sie auch bis zum nächsten Tag bleiben müssen, da die Schlüsselübergabe auch erst am nächsten Morgen stattfinden würde.
"Ich kann einfach nicht glauben, dass alles so reibungslos funktioniert hat", sagte ich schließlich, als Jessy und ich die Kofferraumklappe zuschlugen.
"Du hast dir auch mal eine kleine Glückssträhne verdient, Y/N", erwiderte Jessy freudestrahlend. So sehr ich mir auch wünschte, dass Jessys Freude von Dauer war, ich wusste, dass auch für sie eine schwere Zeit bevorstand.
"Was ist mit dir? Ich meine, hast du denn überhaupt noch einen Job, jetzt wo.. naja du weißt schon?".
Ihr Lächeln verschwand augenblicklich und ihre wahren Gefühle kamen zum Vorschein. Ich konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, darüber zu sprechen, weshalb ich meine Frage schon beinahe bereute.
"Naja.. nein. Für Mr. Roger ist es schwer genug. Mit der Demenz seiner Frau hat er schon genug um die Ohren, weshalb er es nicht schafft, den Autofriedhof weiterhin zu betreiben, jetzt wo Richy nicht mehr da ist..", antwortete sie schließlich. Ich nickte gedankenverloren, denn ich wusste einfach nicht, wie ich ihr in dieser Situation helfen sollte. Vermutlich war ich die letzte Person, die irgendjemandem eine Hilfe sein konnte, doch Jessy hatte so viel für mich getan, da wollte ich ihr irgendetwas zurückgeben.
"Aber mach dir keine Sorgen, ich finde schon etwas. Es ist nur.. es kommt mir so unwirklich vor, dass ich nie wieder mit Richy zusammenarbeiten soll, dass er nie wieder hereinkommen und die Bürofische mit ausgedachten Namen begrüßen wird. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich scheinbar so in einem Menschen getäuscht habe..", sagte sie schließlich, als ich nicht reagierte und ich konnte das Beben in ihrer Stimme wahrnehmen.
"So darfst du nicht denken, Jessy. Richy war dein bester Freund und das was passiert ist, wird nichts an eurer gemeinsamen Vergangenheit ändern. Ich habe das ernst gemeint, das was ich zu Thomas und Cleo gesagt habe, meine ich. Ich glaube Richy, dass er niemals wollte, dass es soweit kommt. Und der Richy, den der dein bester Freund war, ist noch immer da.. irgendwie zumindest" Ich sah, dass sich Tränen in Jessys Augen sammelten, während ich sprach.
"Ich weiß nur nicht, ob ich ihm jemals wieder in die Augen sehen kann, Y/N. Ich habe das Gefühl, gar nicht mehr zu wissen, wer er ist", gab sie schließlich zu.
"Ich weiß, was du meinst..", war alles, was ich dazu sagen konnte. Und es stimmte. Mir ging es mit Jake ähnlich. Seit er weg war, fragte ich mich immer wieder, ob vielleicht alles gelogen war, was er jemals zu mir gesagt hatte. Tief in mir wusste ich, dass das nicht die Wahrheit sein konnte, doch anders konnte ich mir sein Verhalten einfach nicht erklären. Hatte Jake mich wirklich die ganze Zeit über benutzt, um Hannah zu finden, nur um mich anschließend fallen zu lassen?
"Hast du nochmal etwas von Cleo und Thomas gehört?", unterbrach Jessy meine Gedanken und ich schüttelte den Kopf. Der Streit hatte mich verletzt und ich war nicht bereit, den ersten Schritt auf sie zuzugehen. "Ich auch nicht", sagte Jessy. "Ich habe ihnen im Moment einfach nichts zu sagen. Vielleicht gibt es irgendwann die Möglichkeit, dass wir uns alle wieder versöhnen, doch zur Zeit brauche ich einfach Abstand von ihnen", erwiderte ich schließlich. Wir hatten in den letzten Wochen jeden Tag miteinander geschrieben, doch zum derzeitigen Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, dass es jemals wieder werden würde wie früher. Jessy sagte nichts weiter dazu, weshalb wir uns verabschiedeten und in unsere Autos stiegen. Es war bereits ziemlich spät und der morgige Tag würde vermutlich noch anstrengender werden, weswegen wir beschlossen zurück zu fahren und uns auszuruhen.

Duskwood - The things we lost in the fire Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt