55. Nächtliche Schüsse

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Ich schnappte nach Luft. Hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie angehalten hatte. Zu sehr war ich in der Erinnerung gefangen. Dachte an die damalige Nacht, die alles verändert hatte. Die braunen Augen hatten mich noch in meinen Träumen verfolgt, ließen mich nicht los. Vielleicht, weil er der Einzige war, der vollkommen umsonst gestorben war.

Er war nie das Ziel gewesen. Nie.

Schuldgefühle schwappten über mir zusammen und meine Augen wurden nass. Nie hatte ich mit meinen Opfern mitgefühlt. Nie hatte mich ihr Schicksal gekümmert. Warum ausgerechnet jetzt?!

Verzweifelt stieß ich die Luft aus, fuhr mir abermals durch die Haare und ging einige Schritte zurück. Sah mich im Zimmer um. Dann ging mein Blick zur Balkontür. Dunkel zeichnete sich die Nacht hinter der Scheibe ab und machte es mir unmöglich, da draußen etwas zu erkennen. Ob Gott mich beobachtete? Meinen erbärmlichen inneren Kampf sah?

Vielleicht hätte ich gar nicht erst herkommen sollen. Hätte stattdessen im Bett bleiben sollen.

Allein die Vorstellung, dass jemand Cosmo tötete, wahr grauenhaft. Kaltblütig, ohne Grund und ohne meine Anwesenheit, mitten in der Nacht. Ihn erschossen in seinem eigenen Blut auf den Boden liegen zu sehen, es würde mir den Atem rauben. Das Leben. Den Sinn. Ich würde alles in Bewegung setzen, um den Mörder dasselbe fühlen zu lassen. Würde ihn leiden sehen wollen. Würde mir die Jagd auf ihn zu meinem Lebensziel machen und erst ruhen, wenn dies erledigt wäre.

Zittrig atmete ich ein, während meine Augen feucht wurden und ich mich geschlagen aufs Bett setzte.

Ich konnte ihm keine Vorwürfe machen. Er war vielleicht ein Mafiosi, bewegte sich wie ich in gewissen Kreisen und hielt vom Gesetz nicht viel, aber wir beide waren uns so unglaublich ähnlich. Er wollte nur seinen Bruder rächen. Zurecht. Ich hatte ihm ein Familienmitglied genommen, da war seine Reaktion nachvollziehbar. Ich hatte kein Recht darauf, um Gnade zu winseln.

Als der Gedanke sackte und mir meine momentane Situation bewusste wurde, kroch eine unglaubliche Kälte durch meinen Körper. Lähmte mich und erschwerte mir das Atmen.

Er war hier, um mich zu töten. Mich. Oder vielleicht auch... Ich riss meine Augen auf. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass er hinter mir her war. Aber es war auch gut möglich, dass seine Rache anders aussah. Wollte er mir dasselbe nehmen, wie ich ihm. Ein Familienmitglied?

Panisch sah ich wieder nach draußen, lief zur Terassentür. Was wäre wenn-

Das Geräusch eines Schlüssels ließ mich zusammenzucken. Entsetzte sah ich zur Tür, die ich geschlossen, aber nicht zugesperrt hatte. Dann verstummte plötzlich alles, wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass jemand Unbefugtes im Zimmer war. Oder er hatte das Licht von außen oder durch den Türschlitz gesehen. Dann wurde die Türklinke runtergedrückt und mein Puls schnellte nach oben.

Überstürzt drehte ich mich wieder um, riss grob die Terassentür auf und stolperte nach draußen. Der Vorhang des Fensters wurde durch den Schwung davor geweht und versperrte seine Sicht auf mich.

Doch die polternden Schritte im Zimmer und die zuschlagende Tür verrieten mir, dass er mich bemerkt hatte und die Verfolgung aufnahm. Hektisch ging mein Blick nach unten. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, doch ich konnte keine Bank finden. Unter dem Balkon war nichts, was meinen Sprung abfedern konnte. Zögerlich biss ich mir auf die Unterlippe, sprang aber doch als ich hörte, wie die Terassentür erneut aufging.

Kleine Steine bohrten sich bei der Landung in meine Handflächen und schnitten in meine Haut. Viel zu langsam richtete ich mich auf. Mein Körper war zu alt und zu verwöhnt für sowas!

Meine Lunge ächzte als ich die Straße nach unten rannte. Der Mafiosi war mir nicht über die Terrasse gefolgt, würde aber wohl nicht so einfach aufgeben. Deswegen rannte ich weiter, hielt an einer Kreuzung allerdings an. Wo sollte ich hin? Zurück zu Aarón konnte ich nicht. Da würde ich ihn doch direkt zu meiner Familie bringen!

Nachdenklich biss ich mir auf die Zunge, erschrak aber als ich schnelle Schritte vernahm. Ein Blick nach hinten bestätigte mir meine Vermutung. Er war mir gefolgt.

Kurzentschlossen rannte ich weiter. Jedoch nicht der Straße entlang, sondern in eine enge Gasse, die durch einen kleinen Bauernhof führte. Mit unglaublich viel Adrenalin im Körper sprang ich über einen der Weidezäune, sah verstohlen zu den Kühen und hoffte, dass sie mich nicht bemerkten. In meiner Hektik trat ich noch in einige Schlaglöcher und seufzte erleichtert auf als ich endlich den Wald erreicht hatte und die Weide verlassen konnte.

„Bleib stehen, du entkommst eh nicht!", schrie er mir hinterher. Dachte er allen Ernstes, dass ich so schnell aufgeben würde?! Ich hatte noch immer eine Chance!

Ein Blick nach hinten bestätigte mir, dass er noch ausreichend entfernt war. Beinahe übermütig sprang ich über eine Wurzel und erklomm den Berg. Doch plötzlich zerschnitt ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Er hatte geschossen. Geschossen!

Mein Herz machte einen ungesunden Satz und ich kämpfte mich tiefer in den Wald. Äste zerkratzten mein Gesicht und mein Atem ging unglaublich laut und schnell.

Zwei weitere Schüsse lösten sich, durch die Entfernung gingen sie aber alle ins Leere. Der Nächste allerdings schlug in den Baum direkt neben mir ein und beinahe wäre ich hingefallen. Ich war ja so was von am Arsch! Nach Luft hechelnd rannte ich weiter. Ich kam auch erstaunlich weit, ohne angeschossen zu werden, nur machten meine Beine langsam schlapp. Da heute Sonntag war, hatte ich nicht gearbeitet, aber die Hitze hatte ihr Übriges getan.

Die Gegend kam mir plötzlich sehr bekannt vor. Als wäre ich schon einmal hier- Ein Schuss und ein stechender Schmerz brachten mich von meinen Gedanken ab.

Mein linker Arm brannte schrecklich und genervt zischte ich auf, wurde langsamer. Doch mein Kopf sagte mir, dass es nur ein Streifschuss war und ich besser weiterlaufen sollte. Und das tat ich auch, zwar langsamer als vorher, aber ich gab nicht auf. Der Mafiosi hinter mir schoss weiter auf mich, verfehlte aber wie durch ein Wunder jedes Mal.

Ich könnte vielleicht entkommen, nur was dann?

Einfach zurückkehren konnte ich nicht. Er würde im Dorf auf mich warten, sich im schlimmsten Fall an Aaróns Familie vergreifen und das war das Letzte, was ich wollte. Es war aussichtslos. Die Jagd war noch lange nicht zu Ende, mein Körper kam aber schon an seine Grenzen. Die Gewissheit kam wie ein Schlag, brachte mich zum Stolpern und als ein weiterer Schuss erklang, landete ich auf dem Waldboden, hörte seine näherkommenden Schritte.

Erschöpft ging mein Blick in den Himmel. Einzelne Sterne erleuchteten ihn. War es das Ende? Für mich? Hatte ich das verdient?

Natürlich hatte ich das. Ich war ein Mörder! Hatte so viel getan. War ein Unglücksbringer für viele. Aber andererseits... Gott hatte mir vergeben. Ich hatte eine zweite Chance bekommen. Ein neues Leben mit Zielen, Träumen und Aussicht auf eine bessere Zukunft! Da konnte es doch jetzt nicht so enden.

Ein erneuter Schuss fiel. Traf den Nadelboden einen halben Meter vor mir. Er war gleich da.

„Oh Gott, hilf mir", stieß ich erschrocken aus und rappelte mich auf. „Bitte!" Ich hatte keine Hoffnung mehr, es gab keinen anderen Weg und so klammerte sich mein Geist an die letzte verbleibende Möglichkeit. Ich war allein hier. Verletzt. Außer Gott konnte mir niemand mehr helfen.

Etwas Nasses floss meinem Arm hinunter und ohne hinzusehen, wusste ich, dass es Blut war.

Erneut nach Gott rufend, rannte ich weiter. Kam letztlich auf einem Plateau zum Stehen. Hier standen keine schützenden Bäume, nur Wiese war zu sehen, ebenso wie der schöne Blick ins Tal. Neben mir ein kleiner See, den ich bereits kannte. Hier hatte ich erstmalig eine wirkliche Bindung zu Gott aufgebaut. Aber war sie auch stark genug?

Ein Stoß in den Rücken brachte mich zu Fall. Presste mir die Luft aus den Lungen. Schnell drehte ich mich auf den Rücken, stockte aber.

Ein Fuß auf meinem Brustkorb hielt mich unten und erstarrt sah ich nach oben. Direkt in den Lauf einer Waffe. Mein Herz setzte erneut an diesem Tag aus und schlug anschließend viel schneller weiter. Der Mafiosi atmete ebenso schnell wie ich, hatte den Mund geöffnet und sah mich hasserfüllt an. Dann sank er auf seine Knie, pinnte sie rechts und links neben mich und drückte seine Waffe direkt auf meine Stirn.

„Grüß deinen kleinen Freund von mir, Assassin."

Hope in the DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt