45. Schönes Chaos

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Noch leicht zittrig trocknete ich mich ab und versuchte die negativen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Ich wollte nicht länger daran denken, was alles passiert war und wohl noch passiert wäre, wenn ich nicht gegangen wäre. Mein Leben wäre vermutlich nur weiter den Bach runtergegangen. Jeder Mensch hatte schließlich eine gewisse Vorstellung von seiner Zukunft. Von dem, was er mal alles erreichen wollte. Nur ich nicht. Cosmo wahrscheinlich auch nicht. Wir lebten immer im Hier und Jetzt.

Doch nun schien sich der Gedanke über die Zukunft und dem Sinn des Lebens in meinem Gehirn festgesetzt zu haben.

„Ace, wie lang brauchst du noch?", rief Cosmo von draußen und klopfte ungeduldig an die Tür.

Ich verdrehte die Augen. „Schon mal was von Geduld gehört?!"

„Ne, kenn ich nicht!", entgegnete er und kam einfach rein.

Überrascht richtete ich mich auf und sah ihn entgeistert an. „Kannst du nicht warten?!"

„Ne, kann ich nicht", grinste er und starrte mir absichtlich auf den Oberkörper, was mir zunehmend unangenehm wurde. Klar, wir waren Brüder und hatten uns schon öfter unbekleidet gesehen, aber das musste ja nicht zur Gewohnheit werden. Meine Hose hatte ich glücklicherweise schon an.

„Die paar Minuten bringen dir doch auch nichts!"

„Doch." Mich immer noch anstarrend meinte er, „Ich hab Hunger und kann ja schon mal unter die Dusche."

„Während ich hier drin bin?"

„Du kannst auch raus gehen."

Die Zähne zusammenbeißend sah ich ihn finster an. „Provozier es nicht, Kleiner."

„Verbale Konversationen gewinn für gewöhnlich immer ich, das wissen wir beide", antwortete er schelmisch und frustriert verschränkte ich die Arme vor der Brust. Schon seit unserer ersten Begegnung war es quasi unmöglich mit ihm zu diskutieren. Ich zog einfach immer den Kürzeren. Eingestehen wollte ich mir das bis heute nicht und machte daher immer wieder denselben Fehler und versuchte ihm seine Sachen auszureden.

„Meinetwegen", stöhnte ich auf. „Aber räum hinterher auf!", wies ich ihn zurecht und beendete meine Sache halbherzig, ehe ich ging.

In unserem Zimmer war das Bett bereits gemacht und von den Zwillingen war keine Spur mehr. Stattdessen hörte ich Gekicher von unten und unmotiviert lief ich die Treppe hinunter. Julia war wie eigentlich immer in der Küche, Aarón machte gerade das Feuer im Ofen an und Keno war mit den Kindern im Esszimmer. Helena schien ungewöhnlich gut gelaunt, vermutlich da sie heute nicht in die Schule musste und die Zwillinge waren noch so verschlafen, dass sie mich einfach komplett ignorierten.

„Morgen", brummte ich leise und setzte mich mit an den Tisch.

„Gut geschlafen?", fragte Aarón, der hinter mir den Raum betreten hatte und sich zu uns setzte. Ob die Frage eine mögliche Anspielung auf das Kuscheln von letzter Nacht oder das Unwetter war, wusste ich nicht genau.

Misstrauisch, aber mit zuckenden Mundwinkeln, sah ich ihn an. „Ja, warum?"

„Nur so", lachte er. „Das fragt man so."

„Oh."

Schmunzelnd schüttelte Aarón den Kopf. Mittlerweile hatten sich alle daran gewöhnt, dass Cosmo und ich manche Höflichkeiten oder Redewendungen nicht sofort begriffen.

Als Julia und Cosmo dann endlich zu uns kamen und wir gemeinsam frühstückten, war die Sache in der Dusche schon komplett vergessen. Die lockere Stimmung, die mir schon länger ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, sorgte für meine innere Ruhe. Und die brauchte ich im Moment sehr dringend.

„Nachher machen wir nen Arbeitseinsatz. Bei uns siehts im Vergleich zur Nachbarschaft noch gut aus, aber es wird trotzdem eine Zeit dauern, bis alles weggeräumt ist", erklärte Aarón und ein Blick hinaus zeigte mir die Unordnung. Das Unwetter hatte ein ganz schönes Chaos angerichtet und mich würde es nicht wundern, wenn es mehr als einen Tag brauchte, ehe alle Straßen geräumt waren.

„Muss das wirklich sein?", wollte Helena wissen. „Ich hab noch Hausaufgaben und-"

Julia unterbrach ihre Tochter schnell mit einem mütterlichen Blick, der selbst mich schlucken ließ. Die Hausfrau hatte eben zwei Seiten. Eine liebevolle und weiche Seite, die sie meist ihren Kindern zeigte und eine dominantere und durchsetzungsfähige, die sie oft brauchte, um sich zu behaupten. Auch wenn ich bisher der Meinung war, dass Helena für ein jugendliches Mädchen recht einfach zu Händeln war. Cosmo hatte schon sehr viel früher mich zur Schmerzgrenze gebracht.

„Wir machen alle nach dem Essen mit", bestimmte Aarón, woraufhin keine weiteren Widerworte kamen.

Erst als nach dem Frühstück die Haustür geöffnet wurde und Keno mit seinen Gummistiefeln in den Schlamm stapfte, verzogen wir alle das Gesicht. Es gab definitiv besseres. Aber Cosmo und ich waren wohl kaum in einer Position, in der uns Gemecker zustand. Also mussten wir wohl den Unmut runterschlucken und zusammen mit einigen Nachbarsbauern den Unrat wegräumen. Sogar zwei umgefallene Bäume versperrten weiter weg die Straßen.

„Aarón?", fragte ich vorsichtig als alle mit was anderem beschäftigt waren. „Kann ich mal kurz mit dir Reden?"

„Klar, was gibt's denn, Ace?"

„Naja... also angenommen man würde reinen Tisch machen wollen... wie genau soll Das gehen?"

Aarón verzog das Gesicht. „Reinen Tisch machen?"

„Na..." Seufzend strich ich mir durch die Haare. Keine Ahnung, woher das plötzliche Unwohlsein kam, aber es verunsicherte mich zutiefst. „Wenn man Gott um Vergebung bitten wollen würde... also, um neu anzufangen, wie sollte man-"

„Meinst du das ernst?", unterbrach er mich auch schon.

Perplex sah ich ihn an. „Äh ja." Urplötzlich kam das erdrückende Gefühl zurück und meine Entscheidung wurde dadurch nur nochmal bestätigt. „Ich bin mir sicher."

Aarón strahlte sofort übers ganze Gesicht. „Du glaubst gar nicht wie sehr mich das freut, Ace", meinte er und umarmte mich auch schon direkt. Verspannt lachte ich auf und Aarón entfernte sich wieder von mir. Beinahe verunsichert fuhr er mit seinen Händen seiner Jacke entlang und senkte den Blick. „Also... Ace, wenn du dir da wirklich sicher bist, dann müsstest du Gott um Vergebung bitten."

„Das sagst du so einfach", murmelte ich und ließ meinen Nacken knacken.

Mit deutlich weicherem Blick sah mich der ältere Mann an. „Ich weiß, dass das kompliziert und vielleicht auch weithergeholt klingt, aber Gott wird dir vergeben, Ace. Was auch immer es ist." Väterlich legte er einen Arm um meine Schultern und zog mich leicht zu sich, während er zu Keno und den anderen sah, die einen Stamm kleinschnitten. „Aber ich denke, dass wir da besser heute Abend drüber sprechen. Das macht man nicht einfach mal zwischen drinnen."

Ich nickte nur und sah ihm hinterher, wie er sich in die Arbeit mit einklinkte. Unschlüssig tat ich es ihm nach und steckte meine Hände für einen Moment in meine Hosentaschen, da sie vor Aufregung immer noch stark zitterten.

Hope in the DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt