Kapitel 68

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Eriks Atem ging stoßweise. Sein Oberkörper hob und senkte sich, unter seinen schweren Atemzügen, sichtbar. In einer Hand hielt er die Waffe, mit der er den Mann getötet hatte, und die Andere war zu einer Faust geballt. Als er aufsah war das Lächeln, das mir einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, verschwunden.

Er blickte sich suchend und gehetzt um. Als seine blauen Augen meine fanden schien Erleichterung in ihnen zu stehen und sein Ausdruck wurde sanfter, aber als Erik einen Schritt in meine Richtung machte wich ich automatisch zurück. Er machte mir Angst.

Mein Herz pochte wie wild, mein Körper kribbelte, als würden Ameisen über meine Haut laufen, und ich konnte mein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören. Ich konnte Erik nur schockiert anschauen. Er hatte direkt vor meinen Augen getötet.

Ich hatte ihn schon in England töten sehen, aber die Brutalität, die ich vor einigen Minuten gesehen hatte, verschlug mir die Sprache. Erik war wie in einem Blutrausch gewesen. Man hatte gesehen, dass er nicht zu bremsen war, deswegen war mit Sicherheit auch niemand dazwischen gegangen und hatte ihn aufgehalten. Das Geräusch, das erklungen war, als er seine Klinge in den Mann geschoben und wieder herausgezogen hatte, klang in meinen Ohren nach und schien betäubend laut zu sein. Als Erik verstand, dass er keine andere Reaktion von mir bekam, kniff er die Augen zusammen und biss sichtbar die Zähne aufeinander. Was erwartete er denn? Er war ein grausamer Mörder, der gerade kaltblütig einen Mann ums Leben gebracht hatte.

„Ach du scheisse" Maike tauchte neben mir auf. Ihr Gesicht war blass geworden, aber sie sah nicht halb so entsetzt aus, wie ich es war.

„Ist das deinetwegen?" Sie schaute mich mit großen Augen an und erst in dem Augenblick wurde mir bewusst, was überhaupt gerade passiert war.

Anscheinend hatte ich einen entscheidenden Punkt übersehen. Erik hatte nicht nur auf brutalste Weise einen Mann seines eigenen Volkes getötet. Er hatte es für mich getan. Weil dieser Mann mich bedrängt hatte. Deswegen auch dieser flehende Ausdruck in seinem Gesicht. Plötzlich schlug mein Herz noch schneller und meine Haut kribbelte noch mehr. Ich musste ihn finden.

Ohne ein Wort ließ ich Maike stehen und schlich um die Menschenmenge herum, die sich langsam wieder in Richtung der großen Halle bewegte. Die Menschen tuschelten und teilweise lachten sie sogar. Gerade war einer ihrer Kameraden getötet wurden und nach ein paar Minuten schien es schon wieder vergessen zu sein. Einzig eine Frau war über die Leiche gebeugt und weinte. Niemand tröstete sie oder leistete ihr Beistand.

Ich lief durch die Dunkelheit und suchte in den Gassen nach Erik. Mein Herz pochte unerbittlich und meine Gedanken flogen vom einen zum nächsten. Was würde passieren, wenn ich ihn fand? Wie würde er reagieren? Und was würde ich überhaupt machen? Was sollte ich zu ihm sagen? Sollte ich mich bedanken?

Ich hörte ein schepperndes Geräusch. Irgendetwas war zu Boden gegangen und zerbrochen. Ich war mir sicher, dass ich in der Richtung, aus der das Geräusch kam, auch Erik finden würde und als ich um die nächste Ecke bog konnte ich ihn sehen.

Er schlug auf eine Hauswand ein und schleuderte dann einen Krug von der Fensterbank des Hauses. Ich blieb stehen. Erik bemerkte mich nicht und schlug erneut auf die Hauswand ein.

Ich konnte sehen, dass seine Fingerknöchel bluteten und seine Hände bereits geschwollen waren. Die Ärmel seines Hemds waren bis zu den Ellenbogen hochgeschoben und auf seinen Unterarmen war noch immer das getrocknete Blut seines Opfers zu sehen. Ich kam näher, aber er hörte mich nicht, war so in seinem Rausch, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Erst als ich direkt hinter ihm stand und eine Hand auf seine bebende Schulter legte, drehte er sich mit einem Ruck um und packte mich grob an der Kehle. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt und immer noch von Blutstropfen überzogen, die ihn noch gefährlicher aussehen ließen. Aber ich verspürte keine Angst. Obwohl er immer noch seine große Hand um meinem Hals gelegt hatte, wusste ich, dass er mir niemals etwas antun würde. Nicht nachdem, was gerade passiert war.

Ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Brust. Sein Hemd war schweißnass und sein Körper bebte unter meiner Berührung. Sein Herz schlug so stark, dass ich es deutlich spüren konnte. Er ließ seine Hand sinken und zeitgleich auch seinen Kopf.

Sein Griff würde blaue Flecken an meinem Hals hinterlassen, das spürte ich. Als er meine Hand, die sanft über sein Hemd strich ergriff und sie festhielt atmete er hörbar aus und ließ die angespannten Schultern sinken. Er sagte nichts. Schaute nicht hoch, um mir in die Augen zu sehen. Ohne darüber nachzudenken, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, legte meine Amre um seinen Hals und zog ihn in eine Umarmung. Er ließ es einfach geschehen und schlang nach einigen Sekunden ebenfalls seine starken Arme um meinen Körper.

Er vergrub seinen Kopf in meiner Hals beuge und strich mir mit einer Hand die Haare auf den Rücken, so wie er es immer tat, wenn wir uns nah waren. Er atmete tief ein und ich tat es ihm gleich. Er war so groß, dass meine Arme zwar um seine Schultern lagen, mein Kopf aber an seine Brust gedrückt war.

Erik machte keine Anstalten sich von mir zu lösen. Er strich mir immer wieder sanft über die Haare, den Rücken und den Nacken, was einen warmen Schauer über meinen Körper jagte. Sein Atem streichelte mein Schlüsselbein und mir war allzu gut bewusst, wie nah seine Lippen der empfindlichen Stelle unter meinem Ohrläppchen waren. Ich wünschte mir, dass er sie darüber gleiten ließ und einen Kuss auf meinen Hals drückte, aber er tat es nicht. Es machte mich innerlich verrückt, wie sanft er war und, dass er nicht weiter ging. Ich wollte, dass seine Hand weiter über meinen Körper wanderte, dass er mir ins Ohr flüsterte, dass er mich begehrte, dass er mich wollte, dass er zugab, dass ich ihm etwas bedeutete.

Die Gefangene des WikingersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt