Der Morgen war frisch - für Selemer Verhältnisse. Das heißt, dass die Morgennebel, welche über der Stadt, ihren halbversunkenen Ruinen, Sümpfen und kleinen Inseln lagen, sich ausnahmsweise nicht stickig, sondern unangenehm kühl, feucht und klebrig auf der Haut anfühlten. Der Praiosschild war noch nicht hinter der Mündung des Schlangenflusses aufgestiegen und selbst wenn, hier fiel es dem Sonnengott schwer, die klebrigen Dünste zu durchdringen. Um diese frühe Zeit aber war alles noch grau und dämmerig.
Trotzdem blinzelte der Gefangene in der Helligkeit, als er die Stufen zur Straße heraufstolperte. Gierig sog er die feuchtkühle Luft ein. Sie roch nach den typischen Ausdünstungen der Stadt, nach Sumpf und dem brackigen Hafenwasser. Aber für ihn roch sie nach Frische, nach Tageslicht, nach Leben. Bald würde er irgendwo in dem Bauch eines Schiffes verstaut werden, und danach... das wussten nur die Götter.
Man ließ ihn aufrecht gehen, immerhin, aber die Hände hatte man ihm diesmal gründlicher gefesselt, seine Arme wurden von zwei Männern festgehalten und ihm folgten nicht weniger als zwei Bewaffnete mit Armbrüsten, deren Bolzen auf ihn gerichtet waren. Er konnte sogar eine gewisse Form von Verständnis aufbringen für die Vorsicht, mit der sie ihn behandelten. Er würde jede Schwäche, jede Nachlässigkeit sofort ausnutzen, das stand außer Zweifel, und er würde dabei nicht zimperlich sein. So allerdings - er wusste, wenn er keine Chance hatte - gab er sich höflich, befolgte jede ihrer Anweisungen anstandslos und versuchte auch nicht, sich ihren Griffen zu entziehen. So langten sie nach kurzer - viel zu kurzer - Zeit am Hafen an. Die bewaffnete Frau, die den kleinen Zug anführte gab den Befehl, zu warten. Dann schlängelte sie sich an einigen Kisten Frachtgut vorbei und verschwand.
„Darf man erfahren, worauf wir warten?" fragte der Gefangene. Aber einer der Bewacher zischte ihm nur zu: „Halt's Maul!"
So zuckte er denn gleichgültig mit den Achseln, und wartete, wobei er den Blick über die Weite des Hafenbeckens schweifen ließ. Die Stelle, wo sein Schiff gelegen hatte, konnte man von hier aus nicht erkennen, aber er war sicher, dass die Mannschaft bereits abgesegelt war, zurück zur Insel, den Schatz zu heben. Es war auf jeden Fall ein Vorteil, dass man ihn wegbrachte von hier, bevor sie zurückkehrten und nach ihm suchen würden. Unwillkürlich lächelte er, als er an ihre Reaktion dachte, wenn sie auf der Insel anlangten.
„Was gibt's denn da zu grinsen?" fuhr ihn sein Bewacher an. Offensichtlich war der Mann etwas nervös. Aber in diesem Moment bog die Führerin um die Ecke und winkte ihnen zu, und so setzten sie sich erneut in Bewegung und folgten der Frau zum Kai, wo eine kleine Dreimastbark vertäut lag. Viel aufsehenerregender aber waren die zwei Gestalten, die am Anleger neben dem Schiff standen und warteten. Verwundert hob er den Blick und musterte die beiden, während die Anführerin ihnen entgegenrief:
„So, das ist er."
Bei der ersten Angesprochenen handelte es sich um eine junge Frau, eher noch ein Mädchen. Sie war nicht sehr groß, schmal gebaut, mit mausbraunem, langem Haar, das wirr und ungekämmt das kleine Gesicht umgab. Nicht nur das Haar, auch die spitze kleine Nase und die runden, olivgrünen Augen erinnerten ihn spontan an ein kleines Mäuschen. Weniger niedlich war allerdings, dass das Mädchen über ihrer zerschlissenen, einfachen Kleidung ein Lederwams und an ihrem Gürtel einen durchaus funktionstüchtigen Degen und einen Dolch trug.
Weit bemerkenswerter jedoch war die zweite Person. Er hatte auch früher schon Zwerge gesehen, sie waren in den Städten des Nordens keine Seltenheit. So weit in den Süden, nach Khunchom oder gar Selem verirrten sich allerdings nur wenige von ihnen. Daher wäre die Anwesenheit eines Zwerges schon an und für sich etwas Besonderes gewesen. Dies aber war eindeutig eine Zwergin. Sie war ziemlich klein und kaum weniger kräftig gebaut als ihre männlichen Artgenossen. Das glatte, rote Haar hing ihr offen über die muskulösen Schultern, die ein gepflegtes, schimmerndes Kettenhemd verhüllte. Um die breiten Hüfen trug sie einen Waffengurt, an dem eine große und sicherlich schwere Kampfaxt hing. Sie stand breitbeinig da, die Daumen nach Männerart in den Gürtel gesteckt und musterte ihn kühl und abschätzend aus ihren grauen Augen.
Derweil redete die Anführerin seines kleinen Wachtrupps unbeirrt weiter: „Ihr habt nichts weiter zu tun, als ihn zweimal am Tag mit dem Nötigsten zu versorgen und ihn, bei der Ankunft in Khunchom zusammen mit diesem Brief der Stadtwache auszuhändigen. Wir werden ihn unten im Laderaum anketten, und den Schlüssel gebe ich euch mit. Wenn ihr ihn erst in Khunchom losmacht, so gibt es eigentlich kein Risiko. Ihr seht also, eine ganz einfache, unkomplizierte Aufgabe."
Aha. Die beiden waren also als Aufpasserinnen für ihn engagiert. Probehalber lächelte er den beiden zu und neigte den Kopf. Das Mädchen hielt seinem Blick nicht stand, sondern wich ihm aus, schaute rasch woanders hin und eine leichte Röte flog über ihre Wangen. Die Zwergin hingegen starrte ihn nur weiter mit sehr strengem, kritischem Blick an. Oh je, bei ihr durfte er sicher nicht auf Milde hoffen. Die Kleine aber war vielleicht etwas zugänglicher. Als die Anführerin endlich eine Pause machte, verneigte er sich so elegant, wie es sein immer noch sehr empfindlicher Rücken zuließ.
„Die Zwölfe zum Gruß, edle Damen." Bevor jedoch eine der beiden reagieren konnte, bekam er von hinten einen schmerzhaften Stoß.
„Los, komm schon, Maul halten."
Während man ihn an den beiden vorbeiführte, sah er, dass die Zwergin immer noch keine Miene verzog, in den Augen des Mädchens jedoch etwas schimmerte, das fast wie Mitleid aussah. Mitleid?! Oh, bei den Zwölfen! Er hasste es, sich von jungen Mädchen bemitleiden zu lassen, aber wenn er überhaupt irgendeine Chance zur Flucht erhalten wollte, so konnte er es sich nicht leisten, irgendeine Möglichkeit außer Acht zu lassen. So unterdrückte er den Fluch, den er am liebsten ausgestoßen hätte, und ließ sich widerspruchslos aufs Schiff und nach unten in den Laderaum bringen.
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Perlenmeer Teil 2: Efferd
AdventureSoll man einem nachweislich schuldigen, zum Tode verurteilten Verbrecher das Leben retten, wenn man die Gelegenheit dazu erhält? Mit dieser Frage mussten sich einst zwei junge Rollenspielerinnen auseinandersetzen. Sie bildete den Kern eines kleinen...