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In der ersten Tageshälfte war es relativ ruhig. Dann aber frischte der Sturm wieder auf, um heftiger denn je zu wüten und zu toben. Die dichten, tiefhängenden Wolken machten es unmöglich die Position zu bestimmen, wie eine kleine Nussschale in der endlosen Weite der grauen Wellentäler und Berge wurde das Schiff vorangetrieben, in die Höhe gerissen und hinabgeschmettert in viele Schritt tiefe Abgründe. Jedes Mal rollten salzige, gurgelnde Wogen über das Deck, rissen alles mit sich, was nicht festgezurrt war oder sich mit aller Kraft festklammerte. Obgleich es noch Tag war, verfinsterte sich der Himmel zunehmend, der Sturm heulte durch die segellosen Rahen, riss an den Resten der Takellage, als störe dieses kleine, menschliche Machwerk eine höhere, göttliche Ordnung. Die Seeleute beteten zu Efferd, den Herrn der Meere, er möge doch gnädig sein und sie verschonen, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Aber sie wussten auch, dass der Hüter der Wasser launenhaft war, wie die Winde und die Wellen, und vielleicht kämpfte er auch gerade seinen ewigen Kampf mit Charyptoroth, der unbarmherzigen Ersäuferin, und wer vermochte zu sagen, wer in diesem zeitlosen Ringen heute den Sieg davontragen würde... Ach, und was bedeutete schon ein kleines Schiff voller Sterblicher in diesem Aufruhr der Elemente?

Der Gefangene tief unten im Bauch des kleinen Schiffes erkannte, dass es nun ernst wurde, selbst er hörte das Grollen des Donners draußen, ahnte, wie die Blitze das Schiff umzuckten. Seine Vorstellungskraft reichte durchaus aus, um ihn ahnen zu lassen was draußen vor sich ging, aber dennoch fuhr er zusammen als plötzlich ein Zittern das Schiff bis in seine Grundfesten erbeben ließ, gefolgt von einem Splittern und doppeltem dumpfen Knallen, als erst der Fockmast und danach der Besanmast abbrachen. Es war zu dunkel, um etwas sehen zu können, aber er wusste genau, was passiert war. Das war das Ende. Das Schiff musste nicht zwangsläufig sofort sinken, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es tiefgehend beschädigt war. Vor allem war es weitgehend führerlos, selbst wenn das Ruder noch funktionierte, was nicht sicher war. Aber mit dem Ruder konnte man nur geringfügig den Kurs korrigieren. Ein echtes Steuern war unmöglich.

Gegen Abend kam niemand, um ihm Brot und Wasser zu bringen. Hatten sie ihn vergessen? Waren sie über Bord gerissen worden? Mit einem Mal kam ihm die wahnwitzige Idee, alle Überlebenden hätten mit einem Beiboot das Schiff verlassen, und er wäre die einzige, noch lebende Seele an Bord. Der kalte Schweiß brach ihm aus und sein Herz hämmerte hart gegen seine Rippen. Oh ihr Götter! Er verspürte das sinnlose Bedürfnis zu schreien, gegen den Sturm anzubrüllen. Statt dessen packte er mit beiden Händen den Ring und stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand. Unter Anspannung all seiner Kräfte zog er an dem verdammten Ding, versuchte es im Holz zu drehen, irgendwie zu verkanten, aber es nützte nichts. Er schlug mit den Fäusten gegen die Wand bis an einem Knöchel die Haut aufplatzte und das Blut seinen Unterarm entlang lief. Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Keuchend setzte er sich auf die Knie und rang nach Atem. Sinnlos. Vollkommen sinnlos. Er konnte nichts tun, um irgend etwas an der Situation zu ändern.

Langsam kam er wieder zur Besinnung. Die Beiboote solcher Schiffe waren viel zu klein, um alle an Bord aufzunehmen. Daher war sein Gedanke abwegig gewesen. Natürlich waren noch Menschen auf dem Schiff. Aber letztlich hatte er doch nur vorausgedacht was aller Voraussicht nach passieren würde, wenn das Schiff sank. Und das würde es höchstwahrscheinlich tun. Das hieß, dass Alle zum Sterben verurteilt waren, ob oben oder unten. Wer sollte da noch einen Gedanken an ihn verschwenden. Und wozu auch. Ein Tod war so gut wie der andere...

Nein!! Protestierte sein Überlebensinstinkt. Er wollte nicht hier unten sterben, in diesem muffigen Laderaum, tief unten im Bauch des Schiffes ertrinken, wenn langsam das Wasser höher stieg, oder gar durch die götterverdammte Kette hinabgezogen werden auf den Grund des Meeres. Aber er hatte ja keine Wahl. Es gab einfach keine Möglichkeit irgend etwas zu tun. Aufstöhnend barg er das Gesicht in den Händen. Sterben war schwerer, als er gedacht hatte.

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Perlenmeer Teil 2: EfferdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt