Einige Meilen entfernt kletterten zur gleichen Zeit die Zwergin und das junge Mädchen müde und erschöpft über ein paar Felsen. Sie waren weit davon entfernt, an die Auslieferung ihres ehemaligen Gefangenen auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Sie waren viel zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt. Sie brauchten längere Zeit, bis auch sie endlich ihren brennenden Durst stillen konnten: Erst, als hoch aufsteigende Klippen, zu deren Füßen sich schäumend die Wellen brachen, sie genötigt hatten, ins Landesinnere vorzustoßen und einen steilen Hang durch kratziges Strauchwerk empor zu klettern, waren sie nach längerem Marsch auf ein dünnes Rinnsal Wasser gestoßen. Von dort aus hatten sie sich entschlossen weiter aufzusteigen und die Spitze des Berges zu erklimmen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es war bereits später Nachmittag, als sie über einen letzten, felsigen Hang die Spitze erreicht hatten. Tief durchatmend richteten sie sich auf und betrachteten das Panorama, das sich vor ihnen ausbreitete: Sie standen auf dem Rand eines riesigen Kraters von mindestens zwei Meilen Durchmesser. Der Grund des Kraters war überwiegend mit kahlem, schwarzen Felsen bedeckt und fast vegetationslos. An einigen Stellen waren tiefe Spalten zu sehen, aus denen Rauch oder Dampf aufstieg. Durch Glück oder Zufall standen sie an der höchsten Stelle des Kraterrandes, so dass es möglich war, sehr weit zu sehen. Weit hinter dem gegenüberliegenden Kraterrand erblickten sie einen feinen, glitzernden Streifen.
„Froboscha!" keuchte Farline, vom Aufstieg außer Atem. Sie packte ihre Gefährtin am Arm und wies geradeaus: „Siehst du das, da hinten? Was ist das?"
Einen Moment antwortete die Zwergin nicht, sondern sah starr geradeaus. Dann stieß sie die Luft aus. „Wasser," antwortete sie und verzog das Gesicht.
„Aber, Froboscha, dann..." Farline sprach den Satz nicht zu Ende.
„Ja," bestätigte die Zwergin. „Sieht ganz so aus, als wären wir auf einer Insel."
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. „Und... ," flüsterte Farline. „Was machen wir jetzt?"
Froboscha kniff die Augen zusammen und starrte wütend auf den hellen glitzernden Streifen am Horizont. Dann wandte sie sich um. „Was zu essen suchen," beantwortete sie fatalistisch die Frage ihrer Gefährtin, und begann, den kahlen Hang wieder hinunter zu klettern.
Farline beeilte sich, ihr zu folgen. „Sag mal, hast du was zu essen gesehen?" fragte sie, halb rutschend, halb kletternd die unermüdlich abwärts stapfende Zwergin.
Die zuckte die Achseln. „Ich kann mich hier mit den Pflanzen und Tieren nicht aus. Vielleicht können wir eine von diesen kleinen Echsen fangen, die hier überall herumsitzen," meinte sie, und wies auf einen kleinen graugrünen Gecko.
Farline musterte die Schuppentiere wenig begeistert. „Ich glaub," keuchte sie, „Ich hab vorhin weiter unten ein paar Palmen gesehen, die sahen wie Kokospalmen aus. Und da waren auch Kokosnüsse dran. Aber die waren ziemlich hoch...," fügte sie leicht zweifelnd hinzu.
Froboscha blieb stehen. „Du bist sicher, dass man diese... hm.. Nüsse essen kann?" fragte sie.
„Schon...," antwortete Farline, „Wenn es denn Kokosnüsse sind."
„Dann zeig mir mal diese Bäume!"
Es war schon nicht einfach, die Nüsse zu Boden zu befördern, denn die Bäume, an denen sie hingen, waren höher als gedacht und obgleich Froboscha ihre ganze Kraft in ihre Würfe legte, brauchte sie recht lange, bis es ihr gelang, mit einem Stein die Kokosnüsse zu treffen. Welche Enttäuschung, als die Nüsse zwar schaukelten, aber keine von ihnen zu Boden fiel! Erneut versuchten sie es alle beide, ohne jedoch den gewünschten Erfolg zu erzielen. Voll Wut und Verzweiflung starrte Farline die grünlich-braunen Gebilde hoch über ihnen an. Sie hatte Hunger, und wenn sie nicht bald etwas zu essen bekam, würde sie schwächer und schwächer werden, und immer weniger in der Lage sein, irgendwie an Nahrung heran zu kommen. Wie zum Hohn bewegten sich die Nüsse ganz leicht, ob durch Wind oder noch durch die Berührung des letzten Steines hätte Farline nicht entscheiden können. Da lösten sich mit einem Mal drei, vier Nüsse. Die beiden Frauen konnten gerade noch beiseite springen, um nicht getroffen zu werden.
Kopfschüttelnd näherte sich Froboscha der einen Nuss. Sie war von dickem, faserigen Gewebe umgeben. Aus einem Riss sickerte heller, durchsichtiger Saft.
„Und? Ist das so eine Kokosnuss?"
Farline nickte begeistert. „Vorsicht. Verschütte nicht den Saft, den kann man trinken."
Misstrauisch steckte Froboscha einen Finger in den Mund und probierte. „Naja," meinte sie wenig begeistert. „Hier, du zuerst."
Nachdem beide ihren ärgsten Hunger gestillt hatten, bemerkten sie, dass die Sonne schon recht tief stand. Beide fühlten sich müde und zerschlagen. Unschlüssig sahen sie sich nach einem Platz für die Nacht um. Plötzlich stutzte Farline und lauschte.
„Hörst du das?" flüsterte sie.
Froboscha nickte. Von ferne, über die gründen Wipfel der Bäume hinweg klang ein dumpfes, gleichmäßig rhythmisches Dröhnen, tief und voll. „Was ist das?", fragte sie.
„Ich glaube, dass sind Trommeln," überlegte Farline. Unschlüssig horchte sie den dumpfen, fernen Schlägen, die wie tiefe, dunkle Schwingungen fast stärker zu fühlen, als zu hören waren.
„Das heißt, wir sind nicht allein auf dieser Insel.," überlegte Froboscha hoffnungsvoll. „Das ist doch eigentlich sehr gut. Wollen wir dem Klang nachgehen?"
Farline zögerte. Für ihre Ohren klangen die dumpfen Töne gar nicht vertrauenerweckend. Und auch der Gedanke im Dunkeln durch diesen heißen, feuchten und unbekannten Wald zu stapfen, behagte ihr nicht. „Lass uns bis morgen warten. Ich bin müde. Wir können morgen sehen, ob da irgendwo Menschen sind."
Resigniert zuckte Froboscha mit den Schultern. Sie hätte zu gerne ein Feuer gehabt, vielleicht etwas Richtiges zu essen, nicht diese faden Nüsse, aber was half es? Menschen! Immer waren sie so rasch müde, wollten rasten, irgendwelche Pausen machen... Sie kannte das schon. Stumm ergab sie sich in ihr Schicksal und sah sich nach einem geeigneten Platz zum Schlafen um.
* * *
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Perlenmeer Teil 2: Efferd
PertualanganSoll man einem nachweislich schuldigen, zum Tode verurteilten Verbrecher das Leben retten, wenn man die Gelegenheit dazu erhält? Mit dieser Frage mussten sich einst zwei junge Rollenspielerinnen auseinandersetzen. Sie bildete den Kern eines kleinen...