Angekettet. Er begann langsam, die Schelle an seinem Handgelenk zu hassen. Dass sie ihm längst die Haut aufgescheuert hatte und daher jede Bewegung der Hand schmerzte, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Aber die unausgesetzte Einschränkung der Bewegungsfreiheit wurde ihm zunehmend unerträglicher. Hinzu kam, dass er einfach nicht aufhören konnte, über Fluchtmöglichkeiten nachzugrübeln, obgleich sein Verstand ihm doch sagte, dass die Aussichten verschwindend gering waren. An Merhibam zu denken untersagte er sich selbst, denn die Vorstellung, wie sie auf ihn wartete, vielleicht gar an ihm zweifelte, ja, zweifeln musste, spendete ihm keinen Trost, sondern lösten nur einen brennenden, sinnlosen Zorn in ihm aus.
Längst hatte das Schiff sich in Bewegung gesetzt. Den Geräuschen und den langsamen Bewegungen des mächtigen Rumpfes konnte er entnehmen, was oben vor sich ging, und er war lange genug Kapitän gewesen um sich ein lebhaftes Bild vom Aufbruch machen zu können. Überhaupt war die bloße Tatsache, dass er sich auf einem Schiff aufhielt, eine wesentliche Erleichterung im Vergleich zu jenem fensterlosen Gelass, in dem er die letzten Tage eingeschlossen gewesen war, denn die Schritte der Menschen auf dem Zwischendeck über ihm, der Wellengang, das Knarren des alten Holzes, all dies waren sinnliche Reize, die in der tödlichen Stille jenes Kellerraumes vollkommen gefehlt hatten. Jedes Geräusch, jede Bewegung waren besser als die vollkommene Stille, das lernte er jetzt.
Er dachte zurück an seine Zeit an Bord, an die Jahre als einfacher Seemann und die als Kapitän. Nicht an die Kämpfe dachte er jetzt, an die Gefahren, das Töten, oder die Beute, sondern an den Alltag, daran, wie es gewesen war, mit dem Astrolabium die Position zu bestimmen, an die Routenplanung, an das Gefühl, das Steuerruder in der Hand zu halten, diese glatten, von vielen Händen und langen Jahren weichgeschmirgelten Holzgriffe, mit denen man unmittelbar über die Hände die Kraft von Efferds Wellen spüren konnte, daran, wie es gewesen war, in die Takelage aufzuentern, die feuchten, rauhen Taue zu spüren, den heftigen Schwankungen des Schiffes noch weit stärker ausgesetzt zu sein, als es auf dem Oberdeck der Fall war. Er spürte wieder den salzigen Gischt, emporgewirbelt und in sein Gesicht geschleudert, der wie tausend winzige kleine Nadeln in die Haut biss, und ihm dennoch stets ein Gefühl von Freiheit und Leben vermittelt hatte. Er erinnerte sich an die Stürme, die sie erlebt hatten, wie sie gemeinsam so manche, finstere Nacht mit dem Element gekämpft hatten, wie das Schiff sich zur Seite neigte, die Wogen und der Wind an ihm gerissen hatten ihn verschlingen wollten. An das Gefühl der Freude und Erleichterung, wenn es ihnen gelang, eine geschützte Bucht anzulaufen, wie es sich anhörte, wenn das Heulen des Windes nachließ, wie es gewesen war, den Anker ins Wasser zu werfen, an das köstliche Gefühl, sich zurückzulehnen, und an den Geschmack des Premer Feuers auf der Zunge, das in solchen Fällen an alle ausgeschenkt wurde. Nein. Es war nicht alles schlecht gewesen in seinem Leben.
Endlich vernahm er leise Schritte auf dem Niedergang, hinunter zum Ladedeck. Endlich. Er hatte gehofft, die Neugier würde sie schon früher zu ihm treiben.
Tatsächlich war es das Mäuschen, wie er gehofft hatte. In den Händen trug sie eine Schale mit Schiffszwieback und einen Krug.
„Oh! Welch ein erfreulicher Anblick." Er lächelte sie anerkennend an.
Sie betrachtete ihn mit einem misstrauischen Blick und näherte sich vorsichtig, dabei streckte sie ihm die Nahrung entgegen. „Für euch."
Sein Lächeln wurde breiter: „Das hatte ich, ehrlich gesagt gehofft. Ich bin hungrig wie ein Wolf. Meine Ernährung war in den letzten Tagen... nun... nicht gerade opulent. Aber ihr braucht euch nicht zu fürchten. Ich werde mich mit dem Zwieback zufriedengeben. Ich verschlinge keine Jungfrauen!"
Sie fuhr entrüstet auf: „Ich fürchte mich nicht vor euch!"
Er verzog scheinbar zerknirscht das Gesicht. „Oh... natürlich nicht. Wie dumm von mir, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen. Ihr stammt, genau wie ich, nicht von hier, wie ich sehe. Wie kommt es, dass ihr im Dienst des Gesandten von Khunchom steht?"
Sie zuckte etwas verlegen die Achseln. „Ich stehe in Niemandes Diensten... das heißt... nur für diese eine Sache. Man hat uns gefragt, ob wir... na ja...," sie brach etwas unsicher ab.
Er zog die Brauen hoch: „Das ist nicht hübsch von euch, dass ihr mich eine Sache nennt."
Sie wurde rot. „Ich meine doch, dass wir auf euch aufpassen. Hier, das Brot und das Wasser..." Sie stellte beides vor ihm nieder und zuckte hastig zurück.
„Ihr seid sehr jung für eine so gefährliche Aufgabe," meinte er.
Sie setzte eine stolze Miene auf. „Oh, ich bin schon weit herumgekommen. Da hab' ich schon Gefährlicheres erlebt."
„Ja? Wirklich...?" fragte er ermunternd.
Sie runzelte leicht die Stirn. Einen Moment zögerte sie, ob sie mehr erzählen sollte, dann überwog ihr Misstrauen.
„Ja. Ich muss jetzt gehen..." Sie wandte sich um.
„Wartet!" rief er ihr nach. „Wollt ihr mir nicht wenigstens euren Namen verraten?"
Sie überlegte. „Ich bin Farline," sagte sie schließlich, bevor sie sich der Stiege zum Zwischendeck zuwandte und flink wie ein Äffchen die Stufen empor hüpfte.
* * *
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Perlenmeer Teil 2: Efferd
AdventureSoll man einem nachweislich schuldigen, zum Tode verurteilten Verbrecher das Leben retten, wenn man die Gelegenheit dazu erhält? Mit dieser Frage mussten sich einst zwei junge Rollenspielerinnen auseinandersetzen. Sie bildete den Kern eines kleinen...