Unterdessen trieb der halbzersplitterte Rumpf des Schiffes durch die Nacht, gejagt von den turmhohen Wellen, die immer wieder das Schiff überrollten, das jetzt noch langsamer geworden war und nicht mehr mit dem wütenden Jagen des Windes mithalten konnte. Die Seeleute hielten ihre Amulette umklammert und beteten mit bleichen Lippen zu Efferd oder zu Liaiella, der sanften Tochter des Meeresfürsten, oder sie fluchten grimmig durch die zusammengebissenen Zähne. Farline und Froboscha harrten in ihrer Kabine aus wie man es ihnen befohlen hatte, geklammert an die Seitenwände ihrer Kojen, und suchten stumm in den Dunkelheit den Blick der anderen.
Aber lange sollte es nicht mehr dauern. Denn nun beschloss der Meeresgott, dem Elend ein Ende zu machen. Der Kapitän, mit einem Gurt am Steuerruder befestigt, sah wohl durch die Dunkelheit und den strömenden Regen die dunkle Masse des Landes, und vielleicht zuckte ja einen Moment Hoffnung in ihm auf, Hoffnung, dass es ihm irgendwie gelingen möge, dieses Land anzulaufen, wo auch immer es liegen mochte, dass es ihm selbst und sogar ein paar anderen gelingen mochten, das rettende Land zu erreichen. So richtete er das Ruder aus, kämpfte mit seiner ganzen Kraft gegen den Druck der Wasserwogen und hielt den Blick auf diese dunkle Masse gerichtet, blinzelnd gegen den dichten Regen.
Aber dann bemerkte er etwas Schreckliches. Vor ihm, im Wasser tauchte etwas anders auf, freigespült in einem Wellental sah er es glitzern, schaumiger Gischt brach sich an dunklem, glänzenden Gestein. Strudelnd und gurgelnd suchten sich die aufgebrachten Wogen ihren Weg durch die Spitzen eines vorgelagerten Felsenriffs.
In Panik riss er das Rad herum, aber die Belastung war endgültig zu viel für den Seilzug, der das Steuerrad mit dem Ruder verband. Mit einer plötzlichen Leichtigkeit flog das Rad in einen Händen herum, verschwunden war jeder Widerstand, der ihm noch ein winziges Gefühl von Kontrolle vermittelt hatte.
„Efferd, sei unseren armen Seelen gnädig," flüsterte er, den Blick starr auf dieses glänzend schwarze Etwas, den gischtumtosten Felsen gerichtet, der das Ende bedeutete. Und dann wartete er nur noch... wartete...
Ein unvorstellbarer Ruck ging durch das ganze Schiff, begleitet von einem langsamen, nicht enden wollenden Kreischen und Stöhnen. Farline und Froboscha wurden von ihren Kojen geschleudert und gegen die Wand geworfen.
„Raus hier," rief Farline mit Panik in der Stimme. „Nach oben!"
„Nein!" widersprach ihr die Zwergin. Sie musste es brüllen, weil man gegen den Krach der Wellen der Wasser und des gequälten Holzes nichts verstanden hätte. Sie erhob sich und kämpfte sich zur Tür durch. Das Holz hatte sich verzogen und die Tür klemmte im ersten Augenblick, hatte aber der geballten Kraft einer Zwergenschulter nichts entgegen zu setzen. Der Gang war bereits voller Wasser, welches jedoch nicht von unten durch den Rumpf des Schiffes emporquoll, sondern durch die weit offenstehende Tür zum Oberdeck hereingedrückt wurde, während verschiedene Passagiere voller Todesangst versuchten, gegen den Druck des Regens und der Wellen die Stiege nach oben zu erklimmen. Aber statt sich dort hin zu wenden wankte die Zwergin, sich mit beiden Händen rechts und links am Gang abstützend in Richtung Niedergang.
„Froboscha!" schrie Farline verzweifelt. Dann folgte sie ihrer Gefährtin zur Stiege.
Im Unterdeck herrschte pechschwarze Finsternis. Als Froboscha auf den Planken ankam, stand sie bereits knietief im kalten Wasser, welches teils von oben hinunterflutete, teils auch durch die Spalten in den Seitenplanken des Schiffes quoll, welche mit jedem Ruck, der das Schiff gegen die Felsen drückte, tiefer aufrissen. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Leiter fest, um in dem schwankenden Schiff nicht umgerissen zu werden. Mit der anderen fingerte sie in ihrer Tasche. Endlich fand sie, was sie suchte. Mühsam kämpfte sie sich nach vorne, tastend durch losgerissene Gepäckstücke, Fässer, die gegen sie stießen, klammerte sich einen Augenblick an den Stamm des Besanmastes, dessen klägliche Reste noch im Bauch des Schiffes staken. Schon reichte ihr das Wasser bis zur Hüfte. Hinter sich vernahm sie die verzweifelten Rufe ihrer Gefährtin, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen.
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Perlenmeer Teil 2: Efferd
AdventureSoll man einem nachweislich schuldigen, zum Tode verurteilten Verbrecher das Leben retten, wenn man die Gelegenheit dazu erhält? Mit dieser Frage mussten sich einst zwei junge Rollenspielerinnen auseinandersetzen. Sie bildete den Kern eines kleinen...