Kapitel 2

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Ihre Sicht

Ich war Hunde müde. Ich hatte zwar im Flugzeug geschlafen, aber so richtig erholsam war das nicht gewesen. Auch wenn ich sagen musste, dass Tarjei ein wirklich angenehmes Kissen abgegeben hatte. Vermutlich würde er sich jetzt nur für immer von mir fernhalten, weil Emil ihm bestimmt einen Einlauf verpasst hatte. Mein großer Bruder hatte nämlich den Drang sich in meine Angelegenheiten einzumischen uns sie für mich zu lösen, wie er immer sagte. Vor allem bei Männern war er vorne dabei, was das Abwimmeln anging.

Ich kramte gerade in meiner Handtasche, als Johannes, der jünger Bruder von Tarjei vor mir stand. Ich kannte ihn nur flüchtig von einer unglaublich anstrengenden Pressekonferenz, die nach der Verleihung der beiden Shootingstar-Awards im norwegischen Fernsehen gelaufen war. Dort war er sehr lustig und super lieb gewesen. Und jetzt sah er mich an.

„Svendsen, ich will ja nicht unhöflich sein, aber du stehst im Weg." Gab er breit grinsend an.

„Oh, entschuldige. Ich bin etwas verpeilt. Tut mir leid. Ich habe geschlafen. Danach bin ich immer so, es tut mir wirklich leid." Ich entschuldigte mich. Eine meiner Angewohnheiten. Ich entschuldigte mich immer und für alles.

„Alles gut. Du hast doch keinen Fehler gemacht. So oft musst du dich nicht entschuldigen." Er sah mich lächelnd an und schob sich an mir vorbei, in den Bus hinein. Und ich suchte weiter in meiner Handtasche nach meinen Augentropfen. Immer noch sehr peinlich berührt. Ich kramte und kramte, bis ich merkte, dass es keinen Sinn hatte, weil ich sie eh nicht finden würde. Ich stieg also in den Bus und ließ mich auf einen leeren Platz am Fenster fallen. Ich fischte meine Kopfhörer und mein Handy aus der Tasche und stellte meine ABBA-Playlist an, nur um wenige Minuten später völlig in der Musik zu versinken. Die Fahrt zum Hotel nach Oberhof war nicht so lang, weshalb ich nur wenige Minuten der Ruhe genießen konnte.

Im Hotel angekommen wurden die Zimmer verteilt und ich stöhnte innerlich auf. Ich war mal wieder mit Therese Johaug in einem Zimmer. Wir beide konnten uns nicht leiden. Warum? Das konnten wir beide auch nicht wirklich begründen, aber es passte einfach nicht. Trotzdem fand unsere Cheftrainerin Inga es immer wieder lustig uns in ein Zimmer zu stecken. Ihrer Meinung nach war es Teambuilding. Ich hasste es einfach nur.

Bevor wir auf unsere Zimmer gehen konnten, machte Inga die Ansage, dass wir uns in einer Stunde die Strecke ansehen würden, bevor heute Abend die Athleteninterne Eröffnungsparty der Weltmeisterschaften stattfinden würde, bevor übermorgen, die Wettkämpfe beginnen würde. Wir Frauen beim Langlauf würden den Auftakt mit den 10 km klassisch machen. Meiner absoluten Paradestrecke. Ich hatte mich über die Jahre zu einer hervorragenden klassischen Läuferin entwickelt, obwohl ich den Skating Stil doch um einiges präferierte. Trotzdem waren die 10 km ein guter Anfang, da auf mir ein enormer Druck lastete. Ich war als Überfliegerin der Saison angereist und führte im Weltcup schon jetzt deutlich. Ich hatte nur in den ersten drei Rennen der Saison und einigen Staffelentscheiden nicht auf dem Podest gestanden. Ich musste also liefern, und ich wollte es auch. Ich hatte mir vorgenommen in allen Rennen eine Medaille zu machen. Die Farbe war mir fast egal. Aber nur fast. Ich wollte mindestens zwei goldene haben.

Mittlerweile war ich auf meinem Zimmer angekommen. Ich legte meine Sachen auf das Bett am Fenster. Immerhin eine Sache bei der Therese und ich uns einig waren. Ich schlief am Fenster und sie Richtung Tür. Ich packte meine Sachen aus und schlüpfte dann in meine Trainingsklamotten, als Therese das Zimmer betrat. Sie würdigte mich kaum und ich nahm ihre Miese Laune, die vermutlich vom Flug herrührte zum Anlass mich schon Richtung strecke auf zu machen.

Ich war gerade ein paar Meter gelaufen, als ich hinter mir rufe hörte. Es war mein Bruder, der zusammen mit Tarjei und Ole Einar angelaufen kam.

„Na Schwesterherz, wieder mit Johaug auf einem Zimmer?" feixte er.

Er wusste genau, dass wir nicht mit einander klar kamen und liebte es sich darüber lustig zu machen. So wie über so ziemlich alles, was ich tat.

„Jap. Sie hat schon wieder schlechte Laune." Gab ich zurück.

Mein Bruder lachte. Er kannte Therese gut. Sie hatten in ihrer Jugend einige Zeit gedatet und manchmal dachte ich, dass sie mich deswegen nicht mochte.

Ich trottete weiter neben den dreien her und war froh, als ich an der Strecke endlich Schnee unter meinen Schuhen hatte. Die Wege in Oberhof waren nämlich tadellos geräumt. Ich ließ mir, nachdem ich mir von meinem Bruder und seinen Kollegen verabschiedet hatte, meine Skier von unseren Technikern geben und erhielt von Inga den Auftrag mir die Strecke anzusehen und danach mindesten zwei Runden davon klassisch zu laufen, um für den übernächsten Tag in Feeling zu kommen. Die Erkundungsrunde lief ich gemächlich, um mir alle Tücken einzuprägen, die beiden folgenden klassischen Runden zog ich das Tempo erheblich an. Mittlerweile liefen auch meine Teamkollegen und die Biathleten. Ich sah immer und überall irgendwen aus dem norwegischen Team. Es fühlte sich toll an nicht nur mit der Langlaufdelegation hier zu sein, sondern auch mit den Biathleten und Kombinieren. Und genau deshalb freute ich mich auf die Party heute Abend, einfach um die vielen Leute kennenzulernen. Eigentlich hasste ich Partys und viele Menschen, aber wenn ich unter Sportlern war fühlte ich mir immer irgendwie zuhause.

Nachdem Inga meine Runden mit mir analysiert hatte, durfte ich zurück ins Hotel. Wir Langläufer gehörten zu den letzten, die beim Abendessen erschienen, entsprechend begrenzt war der Platz im Speisesaal, der uns zur Auswahl stand. Zusammen mit Marit Björgen, meiner Team Sprint Partnerin, die auch irgendwie eine Art Mentorin für mich war, ließ ich mich an den Tisch von meinem Bruder fallen und begann in aller Ruhe mein Gemüse zu essen. Ich aß meistens Gemüse zu Abend, wenn am nächsten Tag kein Wettkampf war, weil ich nach Nudeln oder Reis immer nur schlecht schlafen konnte. Unser Tisch war irgendwie verdächtig ruhig, bis plötzlich Henrik von den Biathleten auf einmal einen halben Würgereiz bekam, nach dem er sein Getränk getrunken hatte. Ich sah sofort in die Richtung meines Bruders und konnte an seinem, sowie Tarjeis und Johannes Blick erkennen, dass sie nicht ganz unschuldig an der Situation waren. Ich verdrehte genervt die Augen und reichte Henrik eine Serviette, damit er den verschütteten Tee aufwischen konnte. Ich wusste genau, dass die drei Schwachköpfe Salz in seinen Tee gekippt haben musste. Ich war auf diesen Streich bei Emil auch schon häufig hereingefallen.

Nach diesem Streich verlief das Essen einiger maßenruhig und irgendwann verabschiedeten wir uns, um uns für die Sportlereröffnungfeierfertig zu machen

Ufullkommenhet er en Form av FrihetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt