Seine Sicht
Die Saisonvorbereitung zog sich hin. Aber sie war dieses Jahr besonders wichtig. Die olympischen Spiele standen an und ich wollte endlich eine Einzelmedaille gewinnen, also musste ich alles daran setzen eine gute Saison hinzubekommen. Aber das war leichter gesagt als getan. Die Sache mit Liva machte mich noch immer fertig und auch meine Freundschaft zu Emil war noch immer angekratzt. Noch dazu hatte ich nach dem unbeabsichtigten Treffen am Holmenkollen nichts mehr von Liva gesehen. Ich hatte nicht die Chance gehabt etwas zu ändern. Sie war nirgends zu finden. In den Medien war aus ihrem Spitznamen Bambi jetzt schon Phantom Bambi geworden. Niemand wusste, wo sie war oder was sie machte. Doch spätestens dieses Wochenende würde es Antworten für alle geben. Die Langlauf-, sowie die Biathlonsaison würden beginnen. Wir würden in Schweden in den Weltcup starten, während die Langläufer in Ruka, Finnland beginnen würden.
Wir waren mittlerweile auch in Östersund angekommen und zum ersten Mal seit Jahren teilte ich mir nicht mit Emil das Zimmer im Hotel, sondern mit Johannes. Es war komisch, aber es konnte mir sicher auch helfen. Und genauso kam es auch. Nachdem Johannes das erste Rennen der Saison gewann, hatte ich sofort das Bedürfnis nachzuziehen, was zur Folge hatte, dass ich den Sprint vor Martin Fourcade gewinnen konnte. Ich merkte, wie sehr Johannes mich pushte. Am Abend meines Sieges schaltete ich bei uns im Zimmer den Fernseher an und hatte Glück, dass wir in Schweden auch NRK empfangen konnten. Nach den Nachrichten lies ich die Sportsendung laufen und beachtete sie nicht weiter, bis ich eine mir sehr vertraute Stimme hörte.
„Ingrid, sie starten auch diese Saison mit einem Sieg über die 10km Distanz. Wollen sie diese Saison wieder ungeschlagen über diese Distanz bleiben?"
„Nun ja, es wäre natürlich unfassbar toll. Aber ich kann jetzt noch nicht sagen, wie die Saison verlaufen wir." Liva wirkt wie immer. Ohne einen unterschied.
„In der Saisonvorbereitung haben wir nicht viel von ihnen mitbekommen. Keine Probewettkämpfe und auf Social Media konnte man auch nicht viel über sie erfahren. Was haben sie die ganze Zeit gemacht." Die Reporterin fragte nun etwas, dass auch für mich interessant war.
„Ich war fast die ganze Zeit bei meinen Eltern in Trondheim. Ich musste meine Akkus ein bisschen aufladen und wo geht das besser als zu Hause? Ich habe mich auch wegen der anstrengenden letzten Saison dafür entschieden dieses Jahr keine Sommerwettkämpfe zu laufen." Sie lächelte schüchtern in die Kamera.
Sie war bei ihren Eltern gewesen. Darauf hätte man kommen können.
„Ingrid, noch eine letzte Frage. Wo liegen in dieser Saison ihre Prioritäten? Welche Ziele haben sie? Immerhin sind sie die Titelverteidigerin des Gesamtweltcups."
Eine dämlichere Frage hätte diese Reporterin gar nicht stellen können. Aber die Presse baute gerne gleich zu Saisonbeginn den Druck auf.
„Ich denke, ich werde die Saison auf mich zu kommen lassen. Natürlich sind die olympischen Spiele ein Ziel auf das ich hinarbeite. Aber auch Dinge, wie die Tour de Ski stehen auf meiner Liste. Aber ich denke, je weniger Druck ich mir selbst mache, desto stärker werde ich sein." Liva ist sehr seriös.
Nach ihrem Interview schalte ich den Fernseher ab und lande mehr oder weniger unabsichtlich auf Livas Instagram Profil. Es war ganz anders, als alle anderen Profile die ich sonst kannte. Jeder ihrer Post war mit viel Liebe kreiert. Das letzte Foto vor diesem Weltcupwochende war ein Foto in der Natur. Sie trug einen dicken petrolfarbenen Strickpulli und strahlte in die Kamera. Ich vermisste ihr Lächeln. Aber ich sagte mir immer, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Liva wirkte in allen Situationen so glücklich, dass es für mich leichter zu ertragen war und immerhin lief es auch bei mir gut, also kein Grund zur Sorge.
Doch die guten Ergebnisse blieben nicht. Ich spielte mich mehr in den Top 20 ab, als in den Top 5. So würde ich niemals eine Medaille in Pyeongchang gewinnen. Und so war ich nach dem Weltcup in Annecy wirklich frustriet. Es war die dritte Weltcupstation gewesen und ich würde nochmal drei haben, um für Pyeongchang bereit zu werden. Nur merkte mittlerweile sogar Johannes, dass ich abgelenkt war und dass, obwohl er sich in einem Höhenflug befand. Er battelte sich regelmäßig mit Martin Fourcade und der Rest von uns hatte das Nachsehen. Trotzdem bemerkte er meine Veränderung.
„Okay, Tarjei. Ich bin nicht er große Experte für Gefühle, aber willst du vielleicht darüber reden, was bei dir los ist?" Johannes sah mich an.
„Was sollte denn bei mir los sein?" ich versuchte alles herunter zu spielen.
„Lüg mich nicht an Tarjei. Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Ist es wegen Liva? Was ist da bei euch vorgefallen?" Johannes traf ins Schwarze, so wie ich es in Wettkämpfen schon lange nicht mehr getan hatte.
„Es ist vorbei. Das ist passiert." Gebe ich mit dem Versuch ohne Emotionen zu sprechen zurück.
„Sie hat es beendet? Das hätte ich nicht gedacht." Johannes sieht mich schockiert an.
„Es war nicht Liva. Ich habe es beendet. Ich wollte nicht, dass alles kaputtgeht, noch wegen einer Sache, von der ich nicht weiß ob sie überhaupt halten kann."
„Du lügst Tarjei. Tu nicht so, als wäre dir das mit Liva egal gewesen. Es ist dir nämlich nicht egal. Dass merkt man." Johannes sieht mich an, als wäre er der größere Bruder.
„Tja, vielleicht hast du Recht. Aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Es ist nun mal so." ich will Johannes gerade einfach nur loswerden.
„Glaub mir Tarjei, wenn du es wirklich willst, dann kannst du es ändern. Aber vielleicht reicht es erstmal, wenn ich dir sage, dass du trotzdem ein unfassbarer Biathlet bist." Johannes lächelt und geht dann in unser gemeinsames Bad.
Er hat mich nachdenklich zurückgelassen. Aber auch mit mehr Selbstvertrauen. Ich weiß, dass der gute Biathlet noch in mir steckt. Ich weiß nur nicht, wann mein Bruder so erwachsen geworden ist, vielleicht ist Hedda die jenige, die ihn auf eine neue Ebene gehoben hat. Oder Sanna hat ihre Finger mit im Spiel. Sie hat Johannes schon immer auf dem Boden gehalten und auch nachdenklicher gemacht.
Alles in allem hat Johannes gerade afür gesorgt, dass ich mich besser fühle.
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Ufullkommenhet er en Form av Frihet
FanficSie ist die kleine Schwester seines besten Freundes. Die Sache ist klar. Sie ist Tabu. Doch schon das erste Treffen ändert alles.