Kapitel 1

234 3 0
                                    


Seine Sicht

Wir stehen am Flughafen. Heute soll es zur Ski-WM nach Oberhof gehen. Wir fliegen zusammen mit unserem Langlauf Team. Eine Tatsache, die vor allem die Trainer nicht besonders gutheißen. Zwischen den Langläufern und uns Biathleten herrscht seit Jahren eine große Rivalität, die wir ausleben. Trotzdem stehen wir jetzt hier zusammen am Gate und warten. Bei den Langläufern scheint genau wie bei uns noch jemand zu fehlen. Bei uns fehlt mein bester Freund Emil. Eigentlich die Pünktlichkeit in Person. Heute nicht. Ich sehe schon die Zornesfalten auf dem Gesicht unseres Schießtrainers Siegfried Mazet entstehen, als ein abgehetzter Emil zusammen mit einer jungen Frau auf uns zu gelaufen kommt.

„Entschuldigt die Verspätung. Wir hatten kleine Kommunikationsprobleme." Er schaut die junge Frau neben sich unglaublich grimmig an.

Sie sieht aus, als würde sie am liebsten im Erdboden verschwinden, bevor sie anfängt sich umschwänglich bei beiden Teams zu entschuldigen, bevor mein Bruder sie unterbricht.

„Keine Sorge. Du bist nicht die letzte. Bei den Langläufern fehlt auch noch wer." Johannes sieht sie an.

„Nope," das war wieder Emil „Ingrid hier war die fehlende Langläuferin. Wir können also los."

„Liva, Emil. Du weißt seit mindestens 20 Jahren, dass ich nicht Ingrid genannt werden möchte." Sagt plötzlich die junge Frau neben Emil, bevor jemand anderes etwas sagen kann.

„Darf ich vorstellen? Meine unglaublich anstrengende kleine Schwester Ingrid Liva." Emil lächelt gekonnt in die Runde, nur um einen bösen Blick seiner Schwester ab zu bekommen.

Ein leises pfeifen erklingt aus unseren Reihen.

„Meine Güte Svendsen, warum hast du uns verschwiegen, dass du so eine heiße Schwester hast?" Das war Vetle.

„Genau deswegen Christiansen, weil ich wusste, dass du deine Augen nicht in ihrem Gesicht lassen kannst." Gibt Emil unglaublich genervt zurück.

Und ich, ich sehe die kleine Schwester meines besten Freundes genauer an. In einer Sache muss ich Vetle aber Recht geben. Liva ist wunderhübsch. Ihre langen blonden Haare, die kleinen Sommersprossen in ihrem Gesicht und die unglaublich blauen Augen. Ich kannte Liva aus dem Fernsehen, hatte aber nicht gewusst, dass sie Emils Schwester war, von der er nichts erzählen wollte. Immerhin war der Name Svendsen nicht ganz selten in Norwegen.

Es war schließlich die Cheftrainerin der Langläuferinnen, die mich aus den Gedanken riss und dafür sorgte, dass beide Teams ins Flugzeug kamen. Liva hatte sich etwas von uns abgesetzt und war weiter vorne bei einer ihrer Kolleginnen. Neben mir pampte Emil gerade Vetle an.

„Eine Sache Christiansen. Meine Schwester ist tabu. Keine Flirtversuche oder anzügliche Sprüche. Und ihre Brüste sind nicht ihre Augen, klar?"

Ich glaube, es war gut, dass Liva diese Konversation nicht mitbekommen hatte. Vetle, der noch relativ neu im Team war, schreckte vor Emil zurück. Emil hatte ihm wohl unmissverständlich den Standpunkt klar gemacht.

Wir liefen mittlerweile ins Flugzeug und ich sah auf mein Ticket um nach meinem Platz zu suchen. Ich saß hinter den Langläuferinnen und musste feststellen, dass in meiner Reihe am Fenster schon Emils Schwester saß. Ich ließ mich also auf meinen mittleren Sitz fallen, nur um festzustellen, dass Emil den Platz neben mir hatte. Das konnte lustig werden. Streitende Geschwister über den gesamten Flug. Perfekt. Doch es kam ganz anders. Emil schlief sofort nach dem Schlaf ein und Liva hatte sich hinter einem dicken Buch vergraben. Ich linste auf den Titel. „Henrik Ibsen-gesammelte Werke" ich war überrascht. Ich würde nie freiwillig noch einmal Ibsen lesen, nachdem wir seine Stücke rauf und runter interpretiert hatten. Ich immer mehr oder weniger erfolgreich.

„Was? Auch ein Fan von Ibsen?" sie sah mich an. Sie hatte wohl meinen Blick gesehen.

„Öhm, eher nicht. Ich bin noch traumatisiert von den Analysen aus der Schule." gab ich schmunzelnd zu.

„Oh, schlechter als Emils Analysen können deine gar nicht gewesen sein." Sie lacht.

„Sag das nicht so. Ich war eine Niete in Norwegisch, ab dem Moment, als ich analysieren und interpretieren musste."

Wieder lacht sie. Ich verstehe gar nicht warum.

„Glaub mir, Emil war furchtbar. Er sagt immer, wäre ich etwas älter gewesen, hätte er Glück gehabt, weil ich dann seine Analysen hätte schreiben können."

„Du magst so klassische Literatur und Analysen also?" fragte ich. Ich war echt schlecht in SmallTalk.

„Ja schon, immerhin war Norwegisch mein Hauptprüfungsfach." Sie lacht noch einmal, bevor sie sich wieder dem Buch widmet.

Ich stöpsle mir meine Kopfhörer in die Ohren und höre ABBA. Ich bin völlig abgelenkt und werde erst wieder in die Realität zurückgeholt, als ich spüre, wie Livas Kopf auf meiner Schulter landet. Sie ist eingeschlafen. Auf ihrem Schoß lieg aufgeschlagen das Buch. Ich greife danach, um ein Lesezeichen reinlegen zu können, bleibe jedoch hängen. Sie liest „Hedda Gabler" dieses Stück haben wir in der Schule nie gelesen. Ich beginne also dort zu lesen, wo sie aufgehört hat.

HEDDA (schaut in den Garten und ruft): Da sind sie ja wieder Herr Richter, einen guten Tag!

RICHTER BRACK (ist von unten nur zu hören): Gleichfalls, Frau Tesman.

HEDDA (hebt die Pistole und zielt): Jetzt erschieße ich Sie, Richter Brack!

RICHTER BRACK (ruft von unten): Nein, nein! Bitte zielen Sie nicht auf mich!

HEDDA: Das kommt davon, wenn man hintenherum kommt! (Sie schießt)

RICHTER BRACK (näherkommend): Sind Sie verrückt geworden?

HEDDA: Oh, mein Gott-habe ich Sie etwa getroffen?

RICHTER BRACK (immer noch draußen): Hören Sie auf mit diesen albernen Spielchen.

HEDDA: Nun kommen Sie schon herein, Herr Richter.

So kann man einen zweiten Akt schon mal anfangen lassen. Da ist mir Johannes Freundin Hedda schon lieber. Die versucht wenigstens nicht mich zu erschießen, dachte ich und legte dann das Lesezeichen in das Buch und jenes, dann wieder auf Livas Schoß.

Wenige Minuten später wachte dann Emil wieder auf. Er streckte sich etwas und sah dann zu mir rüber.

„Warum liegt Ingrid denn auf deiner Schulter?" fragt er noch immer schlaftrunken. Er nennt sie mit purer Absicht nicht Liva.

„Sie ist eingeschlafen und ihr Kopf ist an meine Schulter gefallen. Ich wollte sie nicht wecken, weil sie vorhin so müde aussah." Gab ich zurück.

Emil schien das zu reichen. Er begann auf seinem Handy zu tippen, währen ich wieder Musik hörte. Kurze zeit später kündigte der Pilot die Landung an und bat alle Passagiere sich anzuschnallen. Noch bevor ich etwas zu Liva sagen konnte, hatte Emil sich schon zu ihr gebeugt und rüttelte etwas an ihr.

„Ingrid, hey Ingrid! Aufstehen!"

Ihre Augen öffneten sich und sie nahm ihren Kopf von meiner Schulter. Sie sah mich an und lächelte mir dankbar zu, vermutlich für das nicht aufwecken. Kurz nachdem wir alle die Gurte angelegt hatten landeten wir. Emil und ich waren ziemlich schnell aus dem Flieger raus. Liva, die noch müde war, war eine der letzten. Ich sah sie an.

„Tarjei, du bist zwar mein bester Freund, aber Ingrid ist für dich genauso tabu wie für Vetle, klar?"

Emil musste meinen Blick gesehen haben. Ich nickte ihm einfach nur zu und machte mich dann auf den Weg in den Shuttlebus, der beide Teams zum gemeinsamen Hotel bringen würde.

Ufullkommenhet er en Form av FrihetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt