Kapitel 19

146 3 0
                                    


Seine Sicht

Ich saß im Wohnzimmer meiner Eltern und las in einem Buch. Ich wusste nicht genau, worum es ging, aber ich hatte es einmal von Liva mitgenommen und ihr nie wieder gegeben. Und jetzt saß ich auf dem Sofa und las darin. Aber es war nicht schlimm für mich, dass wir das beendet hatten. Es machte mir überhaupt nichts.

„Na Bruderherz? Seit wann liest du denn?" meine Schwester Martine sah mich an.

„Hatte eben Lust." Versuchte ich mich herauszureden.

„Natürlich Tarjei" Johannes sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ernsthaft Johannes, lass es einfach." Ich wusste, dass er auf Liva anspielte.

Ich stand genervt auf und bewegte in Richtung meines Zimmers. Ich öffnete meine Zimmertür und legte mich auf mein Bett. Ich verstand einfach nicht, warum mich das mit Liva so aus der Bahn geworfen hatte. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Da war ich mir eigentlich sicher gewesen. Aber ich konnte nicht verstehen, warum es mir so wahnsinnig weh tat. Livas letzte Worte zu mir hatten sich so in meinen Kopf gebrannt und auch ihr unfassbar gebrochenes Gesicht kam nicht aus meinem Kopf heraus. Ich konnte es einfach vergessen.

Ich beugte mich wieder über das Buch. Liva hatte in einer feinen und sehr sauberen Handschrift kleine Dinge an die Buchseiten notiert. Es waren teilweise nur kleine Anekdoten, wie „clever", „wunderbar" oder anderes. Manchmal hatte sie aber auch ganze Absätze eng geschrieben auf den Buchseiten hinterlassen. Es war als könnte ich in ihren Kopf schauen. Jeden ihrer Gedanken nachvollziehen. Und ich machte ganz andere Gedanken über das Geschriebene. Ich lag lesend in meinem Bett. Das letzte Mal, dass ich so lange gelesen hatte, war ewig her, aber ich war einfach völlig in das Buch versunken. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer und ließ mich draußen und bei meiner Familie nicht blicken. Ich wusste, dass meine Eltern mitbekommen hatten, dass bei mir etwas nicht stimmte, aber ich hoffte einfach nur, dass sie dachten, dass es an der Saison lag, die nicht laufen wollte. Ich löste mich erst von meinem Buch, als meine Mutter das Zimmer betrat.

„Tarjei, kommst du runter zum Essen? Wir würden dich heute gerne noch sehen." Sie lächelte mich an.

„Klar. Ich komme." Ich legte das Buch auf mein Bett und begab mich in Richtung <Esszimmer. Meine Mutter hatte norwegisches Rentier Ragout gekocht und Klöße gemacht. Ich freute mich sehr auf das Essen mit meiner Familie. Es war immer toll gewesen, wenn wir alle zusammen gegessen hatten. Meine drei Brüder und Martine saßen schon mit meinen Eltern am Tisch und ich setzte mich einfach ohne Kommentar. Meine Mutter tat uns allen das Essen auf und wir begannen schweigend mit dem Essen. Niemand sagte ein Wort. Sonst war es bei uns eigentlich immer sehr heiter. Irgendwann meldete sich mein Vater dann doch.

„Sag mal Tarjei, was ist eigentlich mit dieser Liva? Willst du sie uns nicht langsam vorstellen?" es war eigentlich eine normale Frage, aber ich war trotzdem überfordert mit der Situation.

„Wer ist Liva?" mein Bruder Rasmus sah mich an.

Er, Gaute und Martine waren im letzten Jahr nicht dabei gewesen, als alles begonnen hatte und dementsprechend überfordert waren sie.

„Oh, Tarjei hat im letzten Jahr eine junge Frau kennengelernt, die er sehr mochte." Meine Mutter versuchte hilfreich zu sein.

„Eine Frau, bei Tarjei? Er hatte doch seit Gerda niemanden mehr. Wie lange war das? Zwei Jahre?" Gaute sah uns an.

„Jetzt mal ernsthaft. Was ist mit ihr?" mein Vater schaut mich an.

„Es ist nichts. Es ist vorbei." Nuschle ich und schiebe mir noch etwas von meinem Essen in den Mund um nicht antworten zu müssen.

„Schatz, wieso denn das?" meine Mutter sieht mich mitleidig an.

„Es hat nicht gepasst. Und ich würde es wirklich präferieren, wenn wir das Thema wechseln könnten." Ich war wirklich genervt von dem Gesprächsthema.

Erstaunlicherweise hatte sich Johannes noch nicht ins Gespräch eingemischt. Vermutlich, weil er wusste, dass ich ihm sonst den Kopf abgerissen hätte.

„Natürlich Schatz." Meine Mutter stimmte zu das Thema zu wechseln.

Und wir taten es wirklich. Alle erzählten irgendwas und auch irgendwie nichts. Das Essen zog sich, aber wir hatten letzten Endes doch alle sehr viel Spaß. Dann gab es noch das Weihnachtsdessert und meine Laune sank wieder. Ich löffelte es in Ruhe, als ich plötzlich auf die versteckte Mandel biss. Wenige Minuten später erhielt ich von meiner Mutter das kleine Marzipanschwein und ich musste sofort wieder an Liva denken, die mir im letzten Jahr ein Foto von ihrem Schwein geschickt hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken, um die Stimmung nicht zu zerstören. Irgendwann verabschiedeten wir uns nach einander in Richtung Bett. In meinem Zimmer griff ich nach meinem Handy und stellte überrascht fest, dass ich eine Nachricht von Emil auf dem Handy hatte. Ich öffnete meinen Messanger und las.

Hei Tarjei,

frohe Weihnachten. Ich wollte mich eigentlich nur bei dir entschuldigen, für das was am Holmenkollen passiert ist. Es ist Livas Entscheidung und ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Es tut mir leid.

Emil

Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber ich war froh, dass wir es bereinigen konnten. Ich schrieb ihm eine ähnliche Nachricht zurück und hoffe, dass unsere Freundschaft sich wieder rehabilitieren würde.

Es war ein wirklich schönes Weihnachtsgeschenk gewesen, mal wieder von ihm zu hören. Und vielleicht würde jetzt auch langsam meine Form zurückkommen, damit ich bei Olympia endlich meine lang ersehnte Einzelmedaille gewinnen könnte.

Ich öffnete Instagram und klickte mich durch die Beiträge. Irgendwann landete ich bei Liva. Sie hatte ein Bild von sich, Emil und dessen Freundin Sam hochgeladen. Die drei standen breit lächelnd vor dem Weihnachtsbaum und waren umgeben von warmem Licht. Sie wirkte so unfassbar glücklich. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Es war alles wieder in seine alte Ordnung zurückgekehrt. Liva war wieder mit Emil versöhnt und ich hatte es fast geschafft mich mit Emil zu versöhnen. Es war alles wieder in Ordnung. Nur meine Saison lief nicht und ich fühlte mich immer noch unfassbar schlecht. Ich musste einfach eine Möglichkeit finden bei mir wieder alles in die Waage zu bringen.

Ich wollte eine olympische Einzelmedaille. Das war mein höchstes Ziel der Saison und nichts sollte mich davon abhalten können.

Ufullkommenhet er en Form av FrihetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt