Kapitel 36

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𝐌𝐄𝐑𝐋𝐈𝐀𝐇

Wir fuhren eine ziemlich lange Zeit durch den Wald. Erst als der Sonnenuntergang anbrach, verschwanden die dichten Bäume von meinem Blickfeld.
Die Fahrt setze sich auf einer sogenannten „Autobahn" fort, was ich anhand der Schilder die über der Straße schwebten, gut verfolgen konnte.

Ich stellte mir während der Fahrt Unmengen an fragen. Zum Beispiel, ob nicht ein Autofahrer auf die Idee gekommen ist, dass schräge Dinge am laufen sein könnten, wenn eine Menge protziger Autos perfekt eingereiht mit ihnen die Fahrbahn teilten.

Doch mir war inzwischen klar, dass diese neue Welt in der ich nun gezwungen war zu leben, hinter jeder Ecke schmutzige Geheimnisse lauern hatte.
So würde es mich nicht einmal wundern, wenn Liam oder Jack Verbündete bei der Polizei hätten, die ihnen so einen Auftritt gestatten.

Ebenfalls beschäftigt mich Liam mehr als er sollte. Meinem reinen Menschenverstand nach zu urteilen, sollte ich sofort das Lenkrad rumreisen und aus dem Auto springen. Andererseits hat er mich aus diesem Gefängnis aus Lügen befreit, vielleicht sollte ich ihm sowas wie Dankbarkeit schenken.

Jedoch kann er mich auch einfach angelogen haben, will mich für seine Zwecke und ich war in diesem Horror Haus viel besser aufgehoben.
Dieser Gedanke hört sich ziemlich falsch an, sage ich mir selber.

Grübelnd ziehe ich die Augenbrauen zusammen und wage im Schutz der Dunkelheit einen Blick zu Liam.
Dieser sieht immer noch aus wie am Nachmittag.

Angestrengte Gesichtszüge, leicht zusammengekniffenen Augen und die Lippen gerade zu einer Linie gepresst.
Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen es liegt eine Klausur vor ihm, vor der er mächtig Schiss hat.

„Dein Starren ist aufgeflogen", sprach Liam während eines räuspern in die Stille.
„Falls es unauffällig sein sollte."

Ertappt spüre ich wie mir vor Scham Hitze in die Wangen stieg.

„Ich hab nur nachgedacht", erwidere ich rasch, was aber nicht so lässig klang, wie ich es mir vorgestellt hatte.

„Sicher. Darüber wie ich dich töte oder wie ich dich küsse?", hakt Liam nach und ich untersuche ein weiteres Mal seine Gesichtszüge, diesmal jedoch, um Merkmale von jeglicher Ironie zu finden.

Allerdings finde ich keine. Nichts.
Er meint das todernst.

„Ziemlich komische Frage nicht wahr?", gebe ich meinen Gedanken frei und rutsche unruhig auf dem Beifahrer sitzt hin und her.

„Kommt darauf an wie man sie interpretiert."

„Achso, und den Tod kann man positiv interpretieren oder was?", frage ich leicht lachend, um meine Unsicherheit zu übertönen.

„In der Welt der Mafia ist der Tod für die meisten ein Zeichen der Erlösung. Sie sind glücklich, wenn dieser Tag endlich eintrifft", erklärt Liam mir und seine Hände verkrampfen sich um das Lenkrad, als würde er beschriebene Gefühle gerade durchleben.

„Hast du dich schon einmal danach gesehnt?", frage ich vorsichtig und beobachte die gelben Lichter der Gebäude, die an uns vorbeiziehen.

„Zu sterben? Nein, niemals. Ich würde wissen wann es Zeit für mich ist zu gehen, aber ich habe bereits andere gekannt, die dieses Verlangen nach Frieden hatten", berichtet Liam mit dem Blick starr auf die Straße gerichtet.

„Das tut mir leid."

„Was tut dir denn leid?", erkundigt er sich und linst nun doch für den Bruchteil einer Sekunde zu mir herüber.

„Ich weiß nicht", murmelte ich.
„Ich habe das Gefühl es war nicht leicht für dich, das mitzuerleben."

Liam stößt Luft aus und gönnt sich ein paar Sekunden, um entweder über seine nächsten Worte nachzudenken oder das Pflaster wieder zu schließen, welches ich gerade brutal aufgerissen habe.

Jetzt würde ich gerne in seinen Kopf gucken können.

„Ich bin nicht bereit mit dir darüber zu sprechen, Merliah, es tut mir leid", schildert Liam mir eine Antwort, die ich schon vermutet hatte.

„Nein, nur ich muss mich entschuldigen", ergreife ich schließlich die Gelegenheit, damit mein Gewissen endlich frei von dieser Last ist.

„Was?", keucht er überrascht, doch ich lasse mich davon nicht beirren.

„Mein Verhalten war nicht gerade dankbar. Klar, du bist ein Fremder, von dem ich mich aus diesem Gefängnis habe ausschleusen lassen.
Aber du bist eben auch der, der es überhaupt möglich gemacht hat, dass ich von dort entkomme.
Ich habe es gehasst dort zu sein.
Die ganzen Lügen und Geheimnisse zum Ende hin waren schrecklich, ich hätte es dort nicht viel länger ausgehalten.
Vielleicht bringst du mich ebenfalls an einen Ort, der nicht gut für mich ist, aber für den Moment bin ich froh, mich sicher zu fühlen. Also danke, danke auch, dass du mich vor diesem Evans beschützt hast."

Ich atme bestimmt laut aus, um die angehaltene Luft loszuwerden. Man, so nervös war ich nicht einmal bei meinen Präsentationen.

„Du darfst mich niemals als Retter in der Not sehen, Merliah. Ich habe bloß ausgeführt, was mir aufgetragen wurde. Nimm es mir nicht übel, aber in meiner Welt gibt es neue Freundschaften eben nicht wie Sand am Meer", bemerkt Liam und ich fühle mich automatisch gekränkt, obwohl ich es eigentlich nachvollziehen sollte.

Ein dicker Klos bildet sich in meinem Hals und ich versuche diesen runterzuwürgen.
Es ist hart jemandem deine Gedanken preiszugeben, aber es ist noch härter zu wissen, dass es der Person besser ginge, wenn du es nicht getan hättest.

„Wir werden die Zentrale gleich erreichen. Ich hoffe deine Sachen dürfen dreckig werden", verkündet Liam mir spitzbübisch durch ein flinkes Zwinkern.

Erste Sache die ich gelernt habe : Achte immer genau auf die Menschen um dich herum, die meisten haben zwei Gesichter. Du solltest beide durchschaut haben, bevor du dich auf diese Person einlässt.

Ein steiniger Pfad über den wir gerade tuckeln, schafft es selbst den Jeep ordentlich ruckeln zu lassen. Zum Glück fahren wir nicht länger als fünf Minuten darauf und die Autoscheinwerfer geben mir zu verstehen, dass wir gerade auf einer stinknormalen Wiese geparkt haben.

„Aussteigen", wies Liam mich wie ein General an und Sprung als erster aus dem Auto, als wäre ihm die Luft hier viel zu dünn geworden.

Kurz darauf stand ich selber auf dem matschigen Rasen und spürte wie meine Turnschuhe jetzt schon begannen zu durchnässen.

Ich umrundete das Auto und stellte mich wie ein Entenküken direkt neben Liam.

„Nimm die Taschenlampe und folge mir. Möglichst ohne dich auf die Klappe zulegen", bittet er mich und drückt mir wie erwähnt, eine schwere Taschenlampe in die Hand, die fast so grell leuchtet, wie die Sonne selbst.

Beleidigt über seine Anspielung erwidere ich hochnäsig : „So unkoordiniert bin ich nun auch wieder nicht, dass ich es nicht schaffen würde, mich auf nassem Rasen fortzubewegen."

You're my overdoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt