Kapitel 47 (Harry POV)

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Ich saß im Wartezimmer. Mitch und Paul waren bei mir.
Mitch starrte trostlos vor sich hin. Er blinzelte nicht und trotzdem waren seine Augen glasig und rot unterlaufen. Er sah müde aus, obwohl es erst 14 Uhr war.
Paul hingegen war voller Wut. Er hatte einen Pfleger am Empfang angeschrien.
„Das ist unfair!!", brüllte er, „Wieso sie? Wieso ausgerechnet sie! Sie ist über die Straße gegangen! Die Ampel war grün!"
Der Pfleger sah ihn erschrocken an, nicht wissend, was er sagen sollte. Dann brach er stumm auf einem Stuhl zusammen.
Seitdem hatte er nichts mehr gesagt.
Ich fragte mich, wieso man in einem Wartezimmer vor dem
Operationssaal einen Spiegel aufhängte.
Ich starrte mich an.
Meine Augen waren trüb, ich saß krumm und hatte dunkle Augenringe. Meine Haut hatte jegliche Farbe verloren. Gedankenverloren knackte ich meine Finger.
„Lass das.", sagte Mitch leise, „Bitte. Es ist nicht gut für dich."
„Sorry."
Das Schweigen hier war bedrückend. „Was glaubt ihr, wie lange sie noch da drin ist?", fragte Paul leise.
Wir beide zuckten mit den Schultern. „Keine Ahnung."
Mitch holte Luft. „Der Arzt hat gesagt, dass es sie schlimm erwischt hat."
„Also?"
„Sie hat Blut im Bauch. Und zwei gebrochene Rippen.", meinte Mitch stockend.
Blut im Bauch, dachte ich.
Mein Handy klingelte.
„Harry, Schatz, du hast angerufen?"
Die Stimme meiner Mutter zu hören trieb mir wieder Tränen in die Augen.
„Mama", ich stockte, „Clara-"
„Harry, was ist los?", sie klang todernst.
„Sie ist im Krankenhaus. Sie wird gerade operiert."
Ich hörte Schlüssel klappern und wie die Tür aufging. „Bin auf dem Weg. Noch dreißig Minuten, dann bin ich da."
„Entschuldigung."
Wir drei schauten gleichzeitig auf. Ein Mann mittleren Alters betrat den Raum. Er trug einen Anzug und war auffällig blass.
„Danke, Mama.", murmelte ich und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann legte ich auf.
„Sind Sie wegen der jungen Dame hier, die eingeliefert wurde?"
Mitch sagte: „Ja. Und warum fragen Sie?"
„Ich", er räusperte sich mehrmals, „Ich war bei dem Unfall dabei. Also, ich habe ihn gesehen. Kurz bevor sie angefahren wurde, hat sie mich angeschaut. Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht."
„Sie wird noch operiert.", meinte Paul tonlos.
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ab jetzt durfte sie auch nicht mehr einkaufen gehen, das war klar.
„Oh", er schaute mich ratlos an, „Sind Sie der Freund?"
Ich nickte.
„Es tut mir leid. Brauchen Sie irgendwas? Wasser, Kaffee, etwas zu essen?"
Ich schüttelte den Kopf.
Als sie gestürzt war und die Platzwunde hatte, war ich schon besorgt gewesen. Was ich jetzt fühlte lies sich kaum in Worte fassen.
Mit war schlecht, Tränen liefen mir fast die ganze Zeit übers Gesicht und gleichzeitig wollte  ich laut schreien.
Ich trug das Armband, das sie mir geschenkt hatte und als ich es bemerkte liefen mir noch mehr stille Tränen über meine Wangen. Ich schloss die Augen. Mitch legte einen Arm um mich und drehte mich so, dass ich direkt in seine Schulter weinte.
„Ist gut Harry. Sie ist tough. Das schafft sie schon."
Ich nickte an seiner Brust und schniefte leise. Dann setzte sich der Mann einige Sitze weiter hin.

„Oh, full house wie ich sehe.", sagte der Doktor, als er den Raum betrat und grinste leicht.
Unangebracht, schoss es mir durch den Kopf und auch Paul strafte ihn mit einem Blick, der töten könnte.
Dann führte er uns in seinen Behandlungsraum. „Also", sagte er, „Ms Zimmermann hat diverse Verletzungen davongetragen. Ein Augenzeuge hat gesagt, sie habe sich nach dem Unfall noch einmal aufgerappelt, was verwunderlich ist. Jedenfalls hat sie zwei gebrochene Rippen, die wir nicht operativ versorgen mussten. Sie hat eine Verletzung des Bauchraums, was sie in einen lebensgefährlichen Zustand versetzt hat."
Ich atmete leise aus und betete.
„Sie hat eine Gehirnerschütterung und diverse Schürfwunden. Außerdem hatte sie eine große Wunde am linken Oberschenkel, die wir nähen mussten. Gebrochen war dort aber nichts."
„Geht es ihr gut?", hörte ich Mitch heiser fragen.
Gut ist in dem Fall ein relativer Begriff. Gut ist, dass wir alles versorgen konnten. Gut ist nicht, dass sie noch Schmerzen haben wird. Wir müssen eine Blutvergiftung vorbeugen und sie muss noch einige Tage hierbleiben."
Ich kniff die Augen zu. „Kann ich zu ihr?"
Er nickte. „Erschrecken Sie sich nicht, sie wacht gerade erst auf. Ach ja, den Gang runter und es ist die fünfte Tür von links."
Ich eilte davon.
Fast rennend zählte ich die Türen ab. Bei der richtigen angekommen, dachte ich gar nichts erst ans klopfen, sondern riss die Tür gleich auf.
Die Hand an der Türklinke blieb ich stehen. Clara drehte ihren Kopf und blinzelte. Dann grummelte sie leise. Sie war an eine Maschine angeschlossen, die leise piepte. Außerdem kam ein Schlauch aus ihrem Arm.
„Ich nehme an, einkaufen darf ich jetzt sich nicht mehr?"
Ihre Stimme klang heiser und kratzig und bereitete mir Gänsehaut.
„My Love.", hauchte ich und eilte zu ihr. Ich zog mir keinen Stuhl ans Bett sondern setzte mich direkt darauf.
„Wie gehts dir?", leise Tränen liefen über meine Wangen.
„Gut.", sie schmatzte.
„Du kleine Lügnerin."

Gegensätze ziehen sich an|| HSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt