Kapitel 49

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Triggerwarnung: Genaue Schilderung von Verletzungen

Harry schlief. Ich wollte gar nicht wissen, wie lange er schon wach war. Er hatte sich auf einen Stuhl neben mich setzt und die Beine auf mein Bett gelegt. Die Arme überkreuzt schlief er friedlich.
Anne war vor knapp einer Stunde gegangen. Sie hatte die Tasche, die sie mitgebracht hatte aus und zeigte mir alles.
„Ich hab zwei Shirts und einen Pullover und zwei Jeans, eine Jogginghose und einen Schlafanzug eingepackt. Ich glaube, die Krankenhauskleidung ist doch sehr unbequem.", sie räumte alles in den Schrank.
„Dann noch eine Zahnbürste, Zahnpasta, Deo und all sowas." Das platzierte sie auf dem Tisch gegenüber vom Bett.
Sie war wirklich mehr als fürsorglich.
Mitch holte sich einen Kaffee und Paul war wieder nach Hause gefahren.
Eigentlich wollte ich, dass Mitch auch fuhr. Er war schon länger als 24 Stunden hier. Ob er geschlafen hatte oder nicht, wusste ich nicht.
Dann klopfte es an der Tür. Ohne auf ein „herein" zu warten, öffnete sie sich.
Luke stand im Raum. Er war blass, atmete schwer und schwitzte.
Ich lächelte leicht.
„Bin so schnell gekommen, wie's ging.", hechelte er.
„Komm, setzt dich hin. Wieso bist du so außer Atem??"
„Das", er stützte sich auf einen Knien ab, „verdammte Taxi ist nicht schnell genug gefahren.", er machte eine wirre Handbewegung, „Da bin ich ausgestiegen und gerannt."
Luke war eigentlich sehr sportlich. Allerdings lagen seine Tage als Langstreckenläufer schon etwas zurück.
„Da steht Wasser.", ich schaute ihn besorgt an, „Nimm dir was. Trink alles aus."
Sein Holzfällerhemd war nass geschwitzt und seine Haare klebten an seiner Stirn.
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich. „Jetzt mal weg von mir.", er deutete auf mich, „Mein Englisch ist nicht mehr das beste, aber was ich aus der Nachricht verstanden habe, ist dass du einen Unfall hattest."
„Einen Autounfall."
Ich liebte Luke wirklich sehr und war unfassbar glücklich, ihn hier zu haben. Mit ihm war alles leichter. Diese Gedanken trieben mir fast wieder die Tränen in die Augen.
„Ich wollte nur über die Kreuzung gehen. Es war grün.", murmelte ich weggetreten.
Harry schlief noch immer.
„Und ich wollte ausweichen. Aber dann hat es mich weggestoßen und ich bin hingefallen. Und die ganze Zeit hat mich dieser Mann angeschaut."
„Hey, hey, hey, Clair. Denk gerade nicht daran. Du musst erst gesund werden. Dann kümmern wir uns darum."
Ich nickte.
„Was sagt denn der Doc? Was hast du?"
Ich räusperte mich. „Innere Blutungen, eine Wunde am Bein, Schleudertrauma, Schürfwunden, Blutergüsse, Prellungen, das volle Programm."
Er grinste schief. „Machst halt keine halben Sachen."
Mitch schob sich durch die Tür. „Oh", er stockte, „Hey."
„So viel Englisch kann ich noch.", triumphierte Luke.
„You must be Luke. We texted. I'm Mitch.", Mitch reichte ihm höflich die Hand, „Clara told me a lot about you."
Er grinste. „As she should."
„Clara, der Arzt will gleich nochmal nach dir schauen. Hab gerade mit ihm geredet.", erklärte Mitch und sah zu Harry.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du rüber kommst.", stellte ich trocken fest.
„Bitte?", empörte sich Luke, „Meine beste Freundin liegt im Krankenhaus und ich nehme nicht den erstbesten Flug nach England?"
Ich lachte leise.

„Ms Zimmermann, dürfen die Herren hier dabeibleiben?", erkundigte sich der Arzt. Es war Mr Jones. Er hatte mich schon behandelt, als ich beim Putzen gestürzt war.
Ich nickte.
Dann schob er mein Hosenbein hoch und brachte den weißen Verband zum Vorschein. Luke stand hinter dem Arzt und schaute ihm genau über die Schulter. Mitch saß auf dem Stuhl neben meinem Bett und drückte meine Schulter. Harry hielt meine Hand. Er sah nach seinem Nickerchen viel besser aus. Er hatte viel mehr Farbe im Gesicht und die Augenringe waren zurückgegangen. Seine Augen waren nicht mehr rot unterlaufen und er sah auch nicht mehr so aus, als hätte er geweint.
„So, ich nehme den Verband jetzt ab. Das wird jetzt vielleicht etwas brennen."
Er löste den Verband am einem Ende, während  die Schwester hielt mein Bein hoch, sodass es einfacher für Mr Jones war, den Verband abzuwickeln. Ich spürte, dass er an meiner Haut klebte. Nach und nach sah man mehr von der Narbe. Mein Oberschenkel war blau, grün und lila. Ich konnte Rückstände von dem orangenen Desinfektionsmittel sehen. Zu beobachten, wie Fäden in meinem Bein steckten, war nicht so schlimm wie ich gedacht hätte. Allerdings war die Narbe sehr lang.
„Das sieht doch schon mal gut aus.", meiner der Arzt, „Sie werden erstaunt sein, wie wenig man später davon sehen wird. In circa drei Wochen können wir die Fäden ziehen."
Er gab der Pflegerin ein Zeichen, mir einen neuen Verband anzulegen und zog dann ein Ultraschallgerät heran. Er schlug mein Oberteil leicht zurück.
„Auch das scheint sehr gut zu verheilen. Vorbildlich."
Harry atmete erleichtert auf. Nachdem Mr Jones sich meinen Bauch angeschaut hat, leuchtete er mir noch mit einer dieser nervigen Taschenlampen in die Augen.
„Ja", er schüttelte den Kopf, „Was Ihren Kopf angeht, müssen Sie sich noch schonen. Sie hatten ja letztens schon diese Gehirnerschütterung. Da dauert es etwas länger, sich zu erholen."
Ich nickte.
Macht Sinn, dachte ich mir.
„In fünf Tagen können Sie auch schon wieder nach Hause gehen."
„Gut.", murmelte Luke.
Ich war mir sicher, er hatte kein Wort verstanden.
„Aber bitte sagen Sie mir, das Essen heute ist besser als das von gestern Abend.", brummte ich.
„Ja", lachte er, „Diesmal vegetarisch. Nudeln und ein bisschen Salat."
„Kaffee?"
„Kein Kaffee für Sie. Das Koffein würde Ihrem Kopf nicht guttun."
Ich schmollte. „Na gut."

Gegensätze ziehen sich an|| HSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt