Kapitel 54

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Seufzend stand Harry im Hotelzimmer. Unsere Koffer standen neben uns. Wir beide sahen vollkommen fertig vom Flug aus.
„Sprichst du eigentlich französisch?"
„Äh-", stockte ich, „Baguette, Croissant- äh- Saine."
Er lachte. „Ich auch nicht."
Das erleichterte mich. Ich zückte mein Handy und schaute aufs Display.
7:02 Uhr.
Zu früh, dachte ich.
„Ich muss gleich schon zum Stadion, Mademoiselle. Ich muss zum Stade de france.", sagte er mit traurigen Augen.
Ich seufzte. Dann fing ich an, wie ein kleines Kind zu quengeln.
„Harry, ich will nicht, dass du gehst."
Ich schlang schmollend meine Arme um ihn und drückte ihn an mich. „Kannst du nicht bleiben?"
„Nein, leider nicht, Love. Ich muss wirklich los."
„Aber du bist meiner.", grummelte ich an seine Brust.
Er gab mir einen Kuss auf den Kopf. „Ja, ich bin deiner. Und wie wäre es: Du machst dir einen schönen Tag in Paris und am späten Nachmittag hole ich dich ab und wir gehen gemeinsam ins Stadion."
„Oui, oui."

Einen Tag in Paris zu verbringen war schon immer ein kleiner Traum von mir gewesen. Aber ohne Harry würde es langweilig werden. Es war für ihn auch schwer möglich, einen Tag in einer Großstadt zu verbringen, ohne eine Menschenmasse zu verursachen.
Ich rief Sascha an. „Na, wie geht's?", fragte er.
„Mäh. Ich darf den Vormittag und Mittag alleine verbringen."
„Aber du bist in Paris oder?"
Ich schmiss meinen Koffer auf das Bett. „Ja."
„Na also. Du wolltest schon immer mal nach Paris. Geh raus, male was. Du überlebst das schon."
Mit einem Zip hatte ich meinen Koffer geöffnet. „Wenn das so einfach wäre. Ich hab gerade voll die Blockade! Ich hab auch nur 13 Bilder verkauft. Und eines davon an dich."
Ich hörte, wie er nebenbei durch Papier blätterte. „Ja, wir beide werden es nicht mehr in den Dom der Künstler schaffen. Das heißt aber nicht, dass wir schlecht sind. Wir", er zögerte. Währenddessen nahm ich einige Shirts aus dem Koffer, „werden nur unterschätzt.", ich hörte ein schrauben, „Jedenfalls kannst du dir einen schönen Tag machen. Geh in ein Café, iss ein Croissant oder zwei und trink ganz viel Kaffee. Dann kommst du vielleicht auf irgendeine künstlerische Idee."
„So wie du?", lachte ich, „Morgens drei Stunden in einem Café sitzen und über Gott und die Welt nachdenken?"
Er lachte. „Ja. Genauso!"

„Ein Croissant und einen Kaffee, bitte.", ich nahm mein Buch raus und lächelte den Kellner höflich an.
Er nickte und verschwand.
Bei einem Croissant und Kaffee über Gott und die Welt nachdenken. Könnte mir schlimmeres vorstellen, dachte ich. Wenige Minuten später kam der Kellner mit meiner Bestellung wieder. Es hat wirklich nicht lange gedauert, was mich überraschte.
Ich las einige Zeit, wahrscheinlich länger als ich wollte. Denn als ich mein Buch nach der Zeile „Schmerz verlangt gespürt zu werden." aus „das Schicksal ist ein mieser Verräter" zur Seite legte, war es schon halb zehn. Außerdem war ich ungewöhnlich ruhig. Und das machte mir Angst.
War Harry in Ordnung?
Schnell zahlte ich und machte mich auf den Weg nach draußen.
Ich wählte seine Nummer.
„Love?"
„Ja, ich bin's.", stammelte ich.
„Ich weiß, ich hab deine Nummer eingespeichert. Was ist los?"
Ich fasste mir an die Stirn. „Ich wollte nur fragen, ob du okay bist."
Ich hörte wie er seufzte. „Love, mir geht es gut. Ich weiß wie schwer das für dich sein muss nach dem Unfall normal weiterzuleben. Ich weiß auch, dass du massive Verlustängste hast. Aber mir geht es gut. Wirklich."
Ich brummte beschämt und auf einmal kam mir mein Verhalten albern vor. „Sorry."
„Nein, entschuldige dich doch nicht! Du kannst nichts dafür. Das sind eben die Folgen deines Unfalls. Wenn ich könnte, würde ich dir das alles abnehmen. Deine ganzen Sorgen und vor allem Ängste."
Ein Kloß löste sich in meinem Hals. „Womit hab ich dich verdient, Haz."
Er gab theatralische Laute von sich. „Wenn ich das wüsste."
Ich lachte. „Du Idiot."

Ich war am späten Vormittag noch im Louvre, wo es ungewöhnlich leer war, und kurz beim Eiffelturm. Ich trank unfassbar viel Kaffee und kaufte mir auch ein ganzes Baguette und vertilgte drei Portionen Mouse au chocolat.
Ich nagte an meinem Baguette und lag auf der Couch in meinem Hotelzimmer, als Harry mich abholte.
Stockend blieb er in der Tür stehen. „Das ist mal ein Anblick, den man nicht jeden Tag sieht."
„Besser so, als wenn du mich weinen am Boden vorfinden würdest.", mampfte ich zu ihm schauend.
Er zog eine Grimasse und nickte zustimmend. Plötzlich klatschte er in die Hände. „Komm, steh auf. Wir müssen ins Stadion."
Ich schnaufte aus und überlegte eine Sekunde lang, einfach mit meinem Baguette hier zu bleiben. Aber ich hatte den ganzen Tag alleine ohne Harry verbracht und wenn ich so genau darüber nachdachte, hatte ich ihn vermisst.
Ich stemmte mich auf die Füße und drehte mich einmal.
„Nimmst du mich so mit?"
Er kam zu mir, strich meine Haare glatt und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Ja."

Gegensätze ziehen sich an|| HSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt