"Dein Chef sieht schon wie ein Arschloch aus.", meinte Stefan, während er den Koffer durch den Hausflur und schließlich nach oben in die zweite Etage schleppte.
Ich lief ihm hinterher und beobachtete wie sich seine Muskeln unter dem Stoff seines Shirts regten.
"Wem sagst du das?", murmelte ich mürrisch.
"Kann der eigentlich auch mal lachen?", fragte Stefan und stellte den Koffer ab, um die Tür aufzuschließen. "Oder geht er dafür in den Keller?".
Ich musste schmunzeln.
"Nein, er kann schon lachen. Manchmal. Aber meistens lacht er über einen.".
"Pff.", machte Stefan kopfschüttelnd. "Dem hätte ich schon längst die Meinung gesagt... Ich hätte ihm die Meinung gesagt-", er stoppte um den Koffer wieder aufzunehmen und trat dann ein. "dann hätte ich gekündigt und hätte DANN auf dem Weg nach Hause einem fetten Kratzer in sein Auto gemacht.".
Ich lachte leise und schloss die Wohnungstür hinter mir.
"Das würde ich auch gerne so machen.", meinte ich.
"Dann tu's doch.", erwiderte Stefan und zuckte mit den Schultern. Dann stellte er den Koffer ab und legte seinen Kopf erst auf die linke und dann auf die rechte Seite. Ein lautes Knacken war zu hören, was Stefan mit einem "aua" kommentierte und die Augen zusammenkniff.
"Nein.", antwortete ich. Daraufhin runzelte ich besorgt die Stirn. "Verspannt?".
"Ja.", seufzte er. "Ich war gestern fast den ganzen Tag in der Uni. Musste mir erst zwei Vorlesungen anhören und dann noch für meine Hausarbeit in der Bibliothek arbeiten.".
"Soll ich dich massieren?", fragte ich.
"Kann ich zu der Tochter einer Masseurin 'nein' sagen?", erwiderte er schmunzelnd.
Auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
"Wohl nicht.", sagte ich und machte eine auffordernde Kopfbewegung. "Komm', leg' dich hin.".
Stefan setzte sich in Bewegung und ging geradewegs in sein Zimmer hinein. Als ich eintrat kam mir sein vertrauter Duft entgegen. Wie so oft fühlte sich dies wie Heimat an.
Er streifte sich seine Sneaker von den Füßen und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen."Zieh am besten dein Hemd aus.", schlug ich vor und zog ebenfalls meine Schuhe aus.
Stefan richtete sich wieder auf und knöpfte sich sein schwarz-rot-kariertes Hemd auf. Dann ließ er es von seinen Schultern gleiten und warf es achtlos auf den Boden.
Wieso wurde mein Mund bei diesem Anblick trocken? Gleichzeitig musste ich daran denken, wie Michaels nackter Oberkörper wohl aussehen mochte? Ob er genauso einen Sixpack haben würde wie Stefan?
Oh ich würde wirklich nur zu gerne wissen ob Michael einen Sixpack hat. Ob sich seine Brustmuskeln ebenfalls so deutlich abzeichnen wie bei Stefan? Hat Micha-.
"Hallo?", riss mich Stefan aus den Gedanken. "Nicht träumen. Ich weiß, ich seh' schon geil aus, aber der geile Typ braucht dringend eine Massage.".
"Oh, 'tschuldigung.", nuschelte ich nur und ließ mich neben Stefan auf die Bettkante nieder. Dann begann ich seine Schultern zu massieren.
"Aaaccchhh.", machte er entspannt und schloss genüsslich die Augen. "Das tut so gut.".
Ich lächelte nur und knetete mit meinen Fingern seinen Nacken. Wäre Stefan eine Katze gewesen, hätte er sicherlich angefangen zu schnurren. Darüber konnte ich nur schmunzeln.
"Aber wirklich, Ronja.", setzte Stefan an. "Kündige den Job einfach. Dein Chef wird dann schon sehen was er davon hat.".
"Er könnte sich auch einfach eine andere Assistentin suchen. Viele würden diesen Job gerne machen.", erwiderte ich und knetete stärker, als ich wieder an Stefans Nacken angekommen war.
Dieser kommentierte dies mit einem zufriedenen Grummeln, ehe er auf meine Aussage antwortete:
"Dann lässt er das Beste, was er kriegen konnte, einfach so gehen.".
"Schleimer.".
Stefan blies amüsiert die Luft aus seiner Nase aus. Aber irgendwo wusste ich, dass er recht hatte. Ich tat wirklich alles für diesen Mann. Selbst nach dieser Aftershowparty hatte ich ihn zum Hotel gebracht. Andere hätten ihn vielleicht einfach da gelassen. Und andere hätten vielleicht eine Anzeige erstattet, nachdem er mich geküsst hatte.
"Er hat mich geküsst.", kam es nun aus mir heraus.
"Hm?", machte Stefan. "Wer?".
"Michael."
"WAS?!".
Augenblicklich richtete sich Stefan auf. Er saß nun aufrecht neben mir und glotzte mich mit großen Augen an.
"Michael hat mich geküsst.", wiederholte ich. "Er war ziemlich betrunken. Keine Ahnung ob er sich überhaupt noch daran erinnert.".
"Wolltest du das?".
Ich schüttelte mit dem Kopf.
"Nein.", sagte ich.
"Dieses widerliche Schwein.", knurrte Stefan hasserfüllt. "Wenn der das noch einmal versuchen sollte, dann lernt der mich kennen.".
Das war das erste Mal, dass ich Stefan wirklich richtig zornig sah. Und ich muss sagen, es machte mir Angst.
"Du solltest ihn wegen sexueller Belästigung anzeigen. Dieser Wichser hat nichts besseres verdient.", schnaubte Stefan.
"Nein.", meinte ich. "Er war ja betrunken. Wahrscheinlich weiß er es gar nicht mehr.".
Stefan grummelte. Ich wusste, dass es ihm nicht gefiel, aber es war meine Entscheidung.