1 | Patrizia, die Vornehme

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Patrizia, die Vornehme. Ja, so sieht es hier auch aus.

Könnt ihr euch vorstellen, wie bekloppt ich mir als Kind vorkam, wenn ich mit meiner Oma unterwegs war und sie sich immerzu derart vorstellen musste?

Damit es gar nicht erst zu Kurzformen kommen konnte – das konnte sie nämlich überhaupt nicht ab –, streckte sie direkt die Hand aus und sprach unmittelbar los. Guten Tag. Patrizia, die Vornehme. Bescheuerte Bedeutung. So nichtsaussagend oder etwa nicht?

Aber ihr war es wichtig. Warum auch immer. Und heute wabert es immer wieder in meinem Kopf umher. Patrizia, die Vornehme.

Es wird wohl nicht ohne Grund gesagt, dass jeder Mensch mit Trauer anders umgeht. Anstrengend, sage ich euch. Vielleicht ist es jedoch auch eher die Verdrängung des Kummers, ganz eventuell lasse ich diesen dadurch ja noch gar nicht zu. Wer weiß das schon. Ich würde mich momentan nicht als die objektivste Person in diesem Fall beschreiben. Immerhin betrifft es ja mich, ihre Enkelin. Wie mensch möglicherweise bemerken könnte, kann ich gut und gerne schwafeln – auch wenn es nur in meinem Kopf geschieht. Das nennt sich Ablenkung.

Wo war ich? Ach ja. Patrizia, die Vornehme. Und das es hier – in ihrem Haus – dementsprechend aussieht. Meine Oma hat viel Wert darauf gelegt, dass es schnieke ist. Ihre Worte! Zu meinem Glück war sie keine Sammlerin und hielt nicht viel von Deko-Dingsbums-Dingen, die alles lediglich vollstauben lassen und einen dadurch erdrücken. Weniger zum Ausräumen für mich beziehungsweise uns – ich horche kurz auf, doch Lenara kann ich gerade nicht ausmachen – und auch weniger zum Entscheiden, was damit geschehen soll. Ich bin froh, dass Lenara so was macht. Oh Gott, was würde ich nur ohne sie machen? Ich stehe immer noch an derselben Stelle im Wohnzimmer und blicke dieses hässliche Bild an und habe keine Ahnung, was ich damit machen soll. Ich wette, dass Lenara bald alle anderen Räume durchgeschaut und die zu verpackenden Dinge in Kisten verstaut hat. Und ich ...? Mittlerweile habe ich das Gefühl, je länger ich dieses Fratzengesicht anstarre, desto schauriger verzieht es sich. Was ist daran hübsch? Aber vielleicht erfreut sich noch jemand daran? Nur wer? Meine Eltern haben nun seit langer Zeit eine weitere Verwandte bei sich und werden Patrizia herzlich bei sich aufnehmen. Und sonst?! Nein, nur noch ich bin da, ihre Enkelin. Ich und dieses Bild? Äh ...

Als ich ein Geräusch von rechts wahrnehme, kann ich endlich meine Augen von diesem Maskenbild weglenken. Blonde lange Locken sehe ich durch die Durchreiche – die von der Küche in das Wohnzimmer eingelassen ist – umherwackeln. Lenara. Kurz darauf bückt sie sich etwas und zum Vorschein kommt ihr leicht gerötetes Gesicht.

»Elja, alles cool bei dir?«

Was soll ich darauf antworten?! Ja, alles easy peasy?! Oder: Nee, alles shitty?! Pscht, Elja! Sie kann ja wohl am wenigsten dafür. Und dann ist sie noch deine größte Stütze.

»Geht so?«, bekomme ich immerhin aus mir heraus.

»Ich bin in der Küche gleich fertig und ... dann ist nur noch oben dran«, äußert sie sehr vorsichtig, wobei sie mit Bedacht ihren Zeigefinger leicht dorthin deutet. Mit einem langsamen Nicken nehme ich das zur Kenntnis und trotte dann zur cremefarbenen Couch, die nur zwei Schritte entfernt steht und lasse mich regelrecht darauf plumpsen. Die Möbel ... kommen ein andermal dran ...

Hier ist alles aufeinander abgestimmt eingerichtet. Schnieke eben. Patrizia, die Vornehme eben. Cremefarben sowie helle Brauntöne treffen auf elegante dunkle nussige Farbakzente. Ich habe keinen blassen Schimmer, ob das in der Stylebranche angesagt ist, aber für mein laienhaftes Auge sieht das abgehoben, vornehm und edel sowie schnieke aus. Das Haus ist glücklicherweise recht klein. Es hat einen süßen Garten mit einer schönen niedlichen Terrasse ... Eigentlich doch echt schön hier. So an sich. Pscht. Ich habe Zeit. Eins nach dem anderen. Und eigentlich ... bin ich froh, wenn ich hier wieder wegkann. Zumindest erst einmal. Vor allem, weil mich diese Fratze immer weiter in diese cremefarbene Couch sinken lässt. Unter Umständen könnte es aber auch daran liegen, dass ich gleich diese alten Stufen emporsteigen soll, die nicht minder gruselig sind. Zumindest überkommt mich nur beim bloßen Gedanken an das Ziel bereits ein Schauer.

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