Ich raffe es nicht. Echt nicht.
Es ist, als ob mir gerade jemand ein Brett vor den Schädel geknallt hat. Ich taumele und schwanke, die Sicht verschwimmt ... Du fragst dich selbst, ob du noch bei Bewusstsein bist oder schon längst auf dem Boden liegst. Richtig deuten kann ich es irgendwie nicht. Doch dann ... nach kurzer Zeit sehe ich ... klar?!
Wenn ich mich irgendwann wieder unten länger im Haus aufhalten werde, bekomme ich bestimmt einen Kulturschock. Dass das alles meine Oma sein soll ... Der Anblick ihrer doofen Couch kam mir gestern schon so absurd vor.
Ist es das? Wurde sie so von dieser starken, sich selbst ermächtigenden und so coolen Frau zu, ... na ja, ... dieser zwar sehr netten und freundlichen, aber doch eben schnieken und vornehmen ... Dame? Das passt doch nicht. Hip legen Menschen doch nicht einfach ab oder doch? Empfand sie das da unten als hip? War das mal hip? Hip, hip, hurra! – was kommt mir jetzt schon wieder für ein total dämlicher Gedanke?! Ach, was weiß ich denn? Es ist mit Sicherheit mitten in der Nacht und ich denke hier über so einen Mist nach. Geht es noch bekloppter?
War sie überhaupt schnieke? Oder sind das nur meine Gedanken? Wäre ja nicht unüblich ... Was war sie – ich meine, wer war sie?
Ihre so merkwürdigen Andeutungen hier ... Befand sie sich in einer Identitätskrise? Mit gerade mal zweiundzwanzig Jahren? Was hatte sie umgetrieben? Was ging in ihr vor? Wurde sie da zu der mir bekannten Patrizia? Gab es diese denn überhaupt?
Ich fische mir noch einmal das Foto von meiner jungen hippen Oma, was ich auf den Schreibtisch gelegt habe. Lenara hat auch sofort die Ähnlichkeit zwischen ihr und mir erkannt. Wir könnten Zwillinge sein, meinte sie. Ich drehe es um, um mir noch einmal die Anschrift anzuschauen. Auch wenn Len und ich uns engagieren, sind wir nicht in einer politischen Gruppe aktiv. Wenn du möchtest, könnten wir ja mal zu dem Club – sofern er noch existiert – gehen, hallen mir Lens Worte in Gedanken nach. Warum nicht?! Muss ja nicht sofort sein, aber vielleicht irgendwann. Das Bild wieder umgedreht betrachte ich die Frauen noch einmal. Hoffentlich ist zwischen ihnen alles gut. Also jetzt gerade hier in der Geschichte. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir bewusst, dass das Ende ja nur in eine Richtung gehen kann. Nach einer Weile lege ich das Foto wieder hin und unwillkürlich linse ich zum Regal mit den Fotoalben. Wohlwissend, dass dort Fotos mit allen aus unserer Familie drinnen sind. Wieder muss ich an Daniel denken. Warum fällt es mir so schwer? Ich möchte es doch ... Aber ... ich schaffe es nicht. Stattdessen lenke ich irgendwann meinen Kopf wieder Richtung Buch und senke meinen Blick auf die niedergeschriebenen Worte meiner Oma.
Doch nicht ohne noch einmal zur Tür nebenan zu schauen. Lenara. Ich hoffe, sie kann wenigstens in Ruhe schlafen.
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November 1971
Nachdem der verehrte Herr Justizminister vor zwei Monaten doch glatt eine Reform des Paragrafen 218 angekündigt hat, flackerte die Hoffnung auf. Doch nein, der Herr lehnt einen straffreien Schwangerschaftsabbruch auch in den ersten drei Monaten ab. Wir wurden enttäuscht. Er favorisiert eine Indikationslösung. Nur bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei Behinderung des Fötus oder nach einer Vergewaltigung soll ein Abbruch erlaubt sein. Daraufhin brachen Demonstrationen und Aktionen aus, um die Regierung unter Druck zu setzen. Die haben nämlich eindeutig zu große Angst vor der katholischen Kirche und deren Konsequenzen. Manchmal wünschte ich mir wieder eine Unwissende vom Land zu sein, denn dieses Leben ist doch ab und zu anstrengender. Der Kampf kann einen zermürben und doch ist er wichtig. Sie wollen uns nach wie vor kleinhalten und uns nicht unsere Rechte zugestehen. Allerdings kann ich nicht einfach meinem Leben nachkommen, sondern muss erst einmal für meine Belange kämpfen.
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Historical Fiction◦𝗛𝗶𝘀𝘁𝗼𝗿𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲-𝗔𝗸𝘁𝘂𝗲𝗹𝗹𝗲 𝗟𝗶𝘁𝗲𝗿𝗮𝘁𝘂𝗿 & 𝗥𝗼𝗺𝗮𝗻𝘁𝗶𝗸◦ Schnieke und vornehm auf der einen - hip und inmitten der Szene auf der anderen Seite. Zwischen alldem findet sich Elja wieder, die diese zwei Seiten ihrer Großmutter i...