18 | Unglaublich

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August 1972

Seit dem Frühling fokussiere ich mich wieder mehr auf das, was ich möchte und geben kann. So sehr ich die Aktionen – auch wenn sie in vielerlei Augen radikaler geworden sind – gedanklich unterstütze, bin ich bei einigen schon nicht mehr dabei.

Und es tut mir gut. Es befreit mich. Ich fühle mich stark und leicht.

Seit diesem wunderbaren Tag im März ... im Park ... Ja, da war alles so leicht und schön. Ich spüre, wie sich meine Lippen wieder zu einem Lächeln formen und mich erneut diese Energie durchströmt.

Natürlich möchte und werde ich mich weiter engagieren, aber auch genauso mein Studium nicht vollends aus den Augen verlieren. Durch die Bildung, die ich bekommen darf, kann ich mir einen wertvollen Weg für meine Zukunft legen. Doch ich weiß, dass mein eigener Weg – weil ich eine Frau bin – viel zu sehr eingeschränkt ist und immer sein wird. Daher bleibt der Kampf für mich ein wichtiger Bestandteil. Ich komme mir gerade selbst wie eins dieser komischen Accessoires für das Auto vor, wie so ein Wackeldackel.

Seit diesem Tag, an dem Val mich darin bestärkt hat, möchte ich meine Zeit bestimmen. Und nicht mehr bestimmen lassen. Sei es die freie Zeit oder auch die des Widerstandes. Ich möchte Zeit mit meinen Freundinnen verbringen, ich möchte mit einem guten Gefühl meiner Arbeit nachkommen, ich möchte so vieles, nicht nur Teil von einem sein.

Meine Arbeit ... Beinahe vergessen. Meine Lippen zusammenkneifend, damit mir kein lautes Lachen aus meinem Mund entfährt, stoße ich mich von der Arbeitsplatte hinter mir ab. Eilig, aber nicht hektisch schaue ich mich um. Meine Gäste scheinen noch zufrieden zu sein. Doch zwei Tische fallen mir auf, die abgeräumt werden können. Ich schnappe mir zwei Tabletts und einen Lappen.

Ich mag das Café, es ist klein und überschaubar mit seinen gerade mal sechs Tischchen im Innenraum plus einer Theke, hinter der wir stehen und die Kaffeespezialitäten zubereiten sowie den Kuchen auf die Teller drapieren. Durch die Holzmöbel im hellen Ton hat es einen natürlichen Hauch. Insgesamt wirkt es auf mich niveauvoll mit seinem aufeinander abgestimmten Mobiliar, gleichsam aber auch familiär und vertraut. Vertraut ...

Seit ich hier lebe, habe ich das erste Mal ernste, ehrliche und aufrichtige Freundschaften. Und das fühlt sich gut an. Ich werde gesehen, so wie ich bin. Das will ich nicht mehr missen. Auf keinen Fall. Aber ich habe auch so viel anderes. Ich habe ein Leben.

Die kleine große Sorge zwickt mich wieder. Soph und ich – insbesondere die Zeit mit ihr ist mir heilig. Aber eben nicht nur im Club oder auf Demonstrationen, Veranstaltungen oder irgendwelchen Kongressen. Sollten wir je vor diese Herausforderung gestellt werden, ich weiß nicht, wofür sich Soph entscheiden wird. Sie sagt, sie versteht mich. Aber ist es so? Ihrem Gesichtsausdruck lese ich immer wieder ab, dass sie es möchte – mich verstehen will –, aber ob sie es schafft? Das Zwicken wird zu einem kleinen Stich. Vielleicht habe ich auch nur zu große Angst, weil unser Ende schon so nah war?!

Mit dem Lappen in meiner Hand versuche ich nicht nur Dreck vom Tisch vor mir, sondern auch die Sorgen in mir wegzuwischen.

Momentan läuft es gut zwischen uns. Sie gibt sich Mühe, ich gebe mir Mühe. Darauf möchte ich mich besinnen. All die schönen Stunden, die wir gemeinsam verbringen. Nicht nur intim ... Wir reden und lachen wieder mehr. Grinsend beginne ich gerade von unseren schönen Augenblicken zu träumen, wie wir uns kabbeln oder küssen, ... da werde ich schon von der Seite angestupst.

»Möchtest du heute gar nicht Feierabend machen?«, fragt mich mein Kollege Hugo.

»Oh doch. Ist es schon so spät?« Ups. Schulterzuckend, aber mit einem Lächeln gehe ich an ihm mit dem dreckigen Geschirr vorbei. Was ich von Hugo halten soll, weiß ich nicht, vielleicht ist es auch besser so. Er ist für mich nicht greifbar. Bisher war er gut und nett zu mir und ich möchte es gerne so distanziert, dennoch gleichsam freundlich beibehalten. Einen Ort ohne diese ganze Thermik. Schnell verräume ich das dreckige Geschirr in die Geschirrspülmaschine und entledige mich der Schürze, wobei ich mich noch einmal umgucke, ob all meine Gäste noch immer wirklich zufrieden ausschauen. Dem scheint so.

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