12 | Zu mir zurück

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Mein Schädel brummt. Völlig gerädert komme ich zu mir. Wo liege ich hier eigentlich? Es fühlt sich so hart an.

Als wären einige Backsteine in meinem Kopf, bekomme ich ihn nur schwer zum Bewegen. Ich fühle mich, als wenn mich jemand niedergeschlagen hätte. Vorsichtig öffne ich meine Augen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu schließen. Das Licht, welches gleißend auf mich wirkt, brennt mir direkt in die Pupillen. Habe ich gestern gesoffen? Nach mehrmaligem Blinzeln gewöhne ich mich langsam an die Lichtverhältnisse. Ach ja. Ich bin in Omas Haus. Dass ich das vergessen – oder verdrängt? – habe, scheint mir selbst etwas absurd. Und zugleich beantwortet es mir nicht meine Frage.

Habe ich mich gestern zugetankt? Schwerfällig erhebe ich mich vom Dielenboden neben dem Schreibtisch und stelle dann den Stuhl auch wieder hin. Wie konnte der denn umfallen? Die Fleecedecke greife ich auch unter mir und lege sie über die Stuhllehne. Was ist nur passiert? In meinem Kopf schwirren einzelne lose Fäden umher, die ich nicht zu greifen bekomme. Sobald ich denke, an einen dieser Fäden gelangen zu können, verdichtet sich wieder alles zunehmend. Schwankend – mein Körper ist noch nicht ganz bei mir – schnappe ich nach der Flasche auf dem Tisch. Ich nehme einen großen Schluck meines Wassers.

Als ich die Flasche wieder zudrehe, geht ein Ruck durch mich. Und noch einer. Es überkommt mich. Es ... Irgendetwas kommt auf mich zu. Mein Körper und mein Geist fühlen sich nicht mehr verbunden miteinander an. Ich weiß, dass meine Hand schwitzig ist, doch sie fühlt sich gleichsam ... Ich spüre sie nicht richtig. Es ist da und hält mich fest. Gefangen. 

Eine Lawine – so gewaltig – rollt auf mich zu. Ich sehe sie beinahe auf mich herabstürzen. Ich suche Halt am Stuhl, kralle mich in die Rückenlehne. Alles mögliche prasselt unaufhörlich in mich ein. Den Stoff höre ich sich spreizen unter der Anspannung, die meine Nägel verursachen. Das Holz darunter spüre ich schon an meinen Fingerkuppen. Dadurch strömen nur noch mehr Bilder in mich hinein.

Von gestern. Von damals.

Von den Schreien in meinem Kopf, die meinen Körper erzittern lassen, die nicht verklingen, bis zu dem Schluchzer, bei dem ich nicht mehr ganz anwesend bin und immer weiter abdrifte, bis die Stille mich empfängt. Die Bilder zwingen mich zu Boden und ich kann ... nicht mehr ... Keinen Widerstand mehr aufrecht halten. Der Schmerz zieht gnadenlos durch mich hindurch, sodass ich mich umfasse, versuche die sich auftuenden Löcher in mir drin zu stopfen oder wenigstens aufzuhalten. Unaufhaltsam weine ich.

Ich erinnere mich.

Gabriele! Vielmehr Tante Gabi, wie ich sie nannte – hat oder hatte einen Sohn, meinen Onkel. Er und seine Frau – beide aus unserem Leben verschwunden – hatten ebenso einen Sohn bekommen ... Meinen Cousin. Meinen geliebten Cousin.

Fassungslos über mich selbst wische ich mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Wie konnte ich so lange nicht an ihn denken? Wir waren oft gemeinsam bei Oma, gerade wenn er aus seinem Dorf zu Besuch kam. Hier oben auf dem Dachboden. Auch über Nacht.

Oh mein Gott ... Nein! Nein! Nein! Das darf nicht wahr sein.
Eines Nachts, ... kamen sie ... Nein! Nein ...

Diese Schreie! Aus Leibeskräften. Er sollte nicht von uns gehen. Sie hatten ihn geholt ... Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Es waren meine Schreie! Mein Schluchzen. Das war ich.

Vom Boden aufsehend wispere ich zu ihr, zu meiner Oma. »Es tut mir so leid ... Ich wusste es nicht ...« Oder nicht mehr. 

Oh Oma, ich erinnere mich ... Es war die Situation, die mir Angst machte. Ich wollte nicht mehr her, weil ich Panik bekam, dass auch ich geholt werden könnte. Aber auch, weil ich ihn nie wieder sehen würde. Mama und Papa haben alles versucht – sogar therapeutische Sitzungen –, um mir die Angst zu nehmen und um es mir zu erklären.

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