15 | Dorn im Auge

118 26 138
                                    

Energielos sackt meine Hand von dem Buch zur Seite. Oma machte sich Gedanken über Gabriele. Ich mir um Daniel. Meinen Kopf drehe ich ebenso zur Seite, weg von den Buchstaben, hin zum Fenster. So stark wie die Frauen in Omas Geschichte sind, so schwach wirke ich ... für mich. Debout! Ich schaue durch die Scheibe vor mir zum Himmel hinauf. Debout! Um mehr sehen zu können, erhebe ich mich und gehe näher an das Fenster heran. Debout! Der Abend ist schon angebrochen, bald wird Len hierrauf kommen. Mein Blick gleitet von den Wolken hinunter in den Garten. Wunderschön. Debout ... Ich lehne meine Stirn an das Glas, woraufhin sich ziemlich schnell Dunst an der Scheibe bildet. Dort unten würde ich mich auch öfter aufhalten.

Wenn mich nicht etwas hindern würde ... Ich bin noch nicht so weit. Noch lange nicht. Ich bin nicht stark. Nicht so wie Oma. Nicht so wie die Frauen in ihrer Geschichte. Auch wenn ich es gerne wäre.  

Kurz darauf wird die Tür hinter mir geöffnet und ich bin froh, dass mich jemand aus meinem kraftlosen Zustand befreit.

»Möchtest du noch reden?«, fragt Len mich sanftmütig, als sie sich nähert und mich von hinten ganz zart umarmt.

»Nein, heute nicht mehr. Danke. Lass uns einfach schlafen gehen.«

Würde ich das alles laut aussprechen, würde es nur noch realer werden. Dafür bin ich noch nicht bereit. Ich weiß nicht ... Geht es nur mir so oder auch anderen?

Lenara streicht ihre Hand von meiner Schulter über meinen Arm bis hin zu meiner Hand und greift sie, um mich mit ins Schlafzimmer zu ziehen. Sie wartet ab, bis ich mich hingelegt habe und legt sich dann nah an mich ran, um mir Halt geben zu können. Sie weiß, dass mir das guttut, auch wenn ich das nicht gut laut aussprechen kann. In dem Rhythmus ihrer friedlichen warmen Atemzüge, die ich leicht in meinem Nacken spüren kann, versuche ich meine Ruhe zu finden. Ganz allmählich merke ich, wie meine Augenlider schwerer werden. Kurz bevor ich wegdöse, schieben sich einzelne Fragmente vor mein inneres Auge. Zunächst versuche ich sie wie eine lästige Fliege mit einer imaginären Hand wegzuscheuchen. Doch ... Mein Atem wird hektischer und im Bett liegen zu bleiben, wird für mich unvorstellbar. Außerdem möchte ich Len nicht wecken. Ich gönne ihr vom Herzen ihren Schlaf. So leise wie möglich stehe ich auf und schleiche mich rüber ins andere Zimmer im Dachgeschoss. Ich schlinge mir die burgunderfarbene Fleecedecke um und setze mich auf Omas Thron. Vor mir liegt ihre Geschichte. Soll ich? Ablenkung könnte mir guttun. Oder auch nicht. Ach, auch egal. Außerdem würde ich gerne wissen, ob Oma an der Folgeaktion in Deutschland beteiligt war. Und was ist mit Soph und ihr los? Was meint sie damit ›etwas steht zwischen ihnen‹? Die Geschichte, als sie in die Heimat musste oder noch etwas anderes?

~~~~~

Juli 1971

›Wir haben abgetrieben!‹ Der Stern hat es gebracht.

Zuvor machte man uns noch nieder, dass die deutschen Frauen sich nichts trauten, dass wir keine Büstenhalter verbrennen und uns keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen wagen würden. Falsch gedacht! Da habt ihr es alle! Alle Unterzeichnerinnen haben eine Straftat begannen, weil sie keine Wahl hatten. Weil sie uns – den Frauen – genommen wird. Weil wir nicht gesehen werden. Obwohl wir hier sind. Ja, wir sind hier. 

Voller Euphorie erinnere ich mich an den Tag im Juni und schaue auf den dazugehörigen Artikel, der vor mir auf meinem Tisch liegt. Rechts neben mir ... lauert ein anderes Gefühl.

Doch der sechste Juni wird für uns immer ein besonderes Datum sein. Zumindest für uns. 374 Namen, 374 Frauen – eigentlich noch mehr, doch so viele Namen wurden bis Redaktionsschluss beim Stern eingereicht. Sie alle haben sich dazu bekannt. Wir alle haben den Appell unterzeichnet: »Ich bin gegen den Paragrafen 218 und für Wunschkinder!«

wir sind hierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt