Da war ich also zu Beginn. Als ich das erste Mal das Buch meiner Oma aufgeschlagen hatte. Oh Gott. Das klingt, als wäre es Jahre her. Dabei sind es nur wenige Tage. Ein paar Tage, die mein Leben auf den Kopf gestellt haben. Okay, nicht mein gesamtes Leben ... Ich wiege meinen Kopf hin und her ... So, als würde ich etwas Schwerwiegendes abwiegen. Da kommt mir doch tatsächlich das Emoji in den Sinn. Dieser, der tatsächlich auf dem Kopf steht – allerdings ist das ein fröhlicher. Wieso allerdings?
Veränderungen sind nicht zwingend schlecht. Auch wenn sie dir Angst machen können. Ja, Oma. Auch damit hattest du recht.
Einige meiner Lebensbereiche wurden schon ordentlich durchgerüttelt, seitdem ich hier in diesem Haus bin. Vieles muss ich auch erst einmal ordnen. Aber noch nicht. Noch ist nicht die Zeit dafür, sagt mir mein Gefühl oder meine Angst. Ist ja auch ein Gefühl.
Über ›Anton, der Pimmel‹ bin ich auch nicht mehr erschrocken. Ein Lächeln schleicht sich wieder auf meine Lippen. Nein, vielmehr musste ich gerade dabei lachen. Ehrlich gesagt hatte ich es schon wieder vergessen. Ich finde es zu lustig, wie sehr Oma jeden einzelnen Buchstaben nachgezeichnet hat, sodass es bloß zur Geltung kommt, was für ein ›Pimmel‹ er doch ist. Ich muss mit dem Wort aufhören, sonst schwirrt mir das Wort noch ewig im Kopf herum. Es gibt natürlich schlimmere Bezeichnungen, aber dennoch ... Es muss nicht sein.
Ein bisschen Sorge bekomme ich ... Die ersten zwei Zeilen habe ich schon gesehen ...
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Februar 1973
»Ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass wir uns gar nicht richtig kennen?«, schmettere ich ihr meine Worte harsch an den Kopf.
»Was redest du denn da für einen Unsinn? Hörst du dir überhaupt zu?«
Wir drehen uns im Kreis. Nicht nur in diesem Gespräch. Schon länger. Doch wir wollten es nicht sehen, es uns nicht eingestehen. Weil wir aneinander festhalten wollten. Verdammt. Will ich eigentlich noch immer. Aber ...
»Willst du mir allen Ernstes sagen, dass wir uns in- und auswendig kennen?«, frage ich sie. Das kann sie mir doch nicht weismachen wollen.
»Habe ich das behauptet?«
»Okay, was würdest du denn dann behaupten, wie sehr du mich kennst? Sagen wir ... auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn in- und auswendig wäre. Hm?« Mit den Händen in den Hüften gestemmt, warte ich eine Antwort ab.
»Ich würde sagen, dass ich einiges von dir weiß.«
»Also kannst du keine Zahl benennen, Soph.« Frustriert lasse ich meine Hände wieder sinken und starre aus dem Fenster.
»Echt jetzt?« Soph klingt verzweifelt. Es tut mir weh, sie so zu hören, aber ich kann das in dieser Art nicht mehr. Auch sie so auf dem Küchenstuhl eher kauernd zu sehen, macht mich fertig, aber ich brauche Gewissheit. Oder vielmehr Klarheit.
Nach außen wirke ich vielleicht gerade hart und überzeugt. Wenn sie in mein Inneres blicken könnte ... In mir wütet es. Am liebsten würde ich mich umdrehen, zu ihr hingehen, mich in ihre Arme fliehen. Doch was dann? Haben wir uns nicht schon viel zu lange etwas vorgemacht? Jahre lang ein auf und ab. Voller Hoffnung, dass wir Wege finden, um miteinander glücklich zu werden ... Doch immer wieder fegt ein Sturm über uns hinweg und zerreißt uns. Irgendwann wird nichts mehr übrig bleiben. Was dann?
»Ich weiß nicht mal deinen richtigen Namen. Ist dir das klar?« Immer noch starre ich aus dem Fenster, ohne auch nur ein kleinstes Detail von dort wahrzunehmen.
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Historical Fiction◦𝗛𝗶𝘀𝘁𝗼𝗿𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲-𝗔𝗸𝘁𝘂𝗲𝗹𝗹𝗲 𝗟𝗶𝘁𝗲𝗿𝗮𝘁𝘂𝗿 & 𝗥𝗼𝗺𝗮𝗻𝘁𝗶𝗸◦ Schnieke und vornehm auf der einen - hip und inmitten der Szene auf der anderen Seite. Zwischen alldem findet sich Elja wieder, die diese zwei Seiten ihrer Großmutter i...