3 | Es gibt auch andere

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Lachend hebe ich meinen Blick von Omas Geschichte. Ob mich das auch erschreckt hätte? Damals womöglich schon. Dazu in einer fremden Umgebung. Alles ist neu. Vor allem gibt es wirklich immense Unterschiede zwischen den Orten. Ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen soll oder wo ich Gemeinsamkeiten suchen könnte. Das Kuhdorf, aus dem sie stammt ... Angestrengt schaue ich nach oben, als könnte mir jemand die Antwort zuflüstern. Wie heißt es noch mal? Der eine Besuch dort hatte mir jedenfalls gereicht. Es besteht aus einer Straße und nicht vielem Inhalt. Vielleicht ein bisschen fies ausgedrückt. Und Berlin?! – Ja, was soll ich dazu groß sagen, das kann sich wohl jeder denken. Auch wenn es sich damals um lediglich Westberlin handelte. 

Meine Oma lernte wohl schnell Frauen kennen – ich habe dazu lange gebraucht –, da könnte mensch ja glatt neidisch werden. Aber dass ihr das auch noch gefiel? Das ist alles so neu für mich und verwundert mich ja doch. Hießen die wirklich Aktionsweiber? Ich glaube nicht. Das hätte ich doch schon einmal gehört. Wenigstens im Geschichtsunterricht oder nicht? Obwohl ... Hm. Wir hatten im Geschichtskurs die Suffragetten zum Thema, aber das war ja lange davor. 

Dass Oma diese wilde Zeit miterlebt haben muss, fühlt sich irgendwie seltsam an. Genauso die Tatsache, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe. Sie war 1968 – eine Jahreszahl, mit der ich vieles Cooles verbinde – gerade mal neunzehn Jahre alt. Das weiß ich auch nur so genau, weil ich erst gestern wieder ihre Daten angeben musste. Komischerweise frage ich mich, ob das Wort Schwänze, was sie als Einziges verstand, mit Anton zusammenhängt. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, blättere ich um.

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Oktober 1968

»Dein Stift ...« Mehr höre ich nicht mehr von dem Kerl, der sich neben mich setzte und den ich wahrscheinlich eben angerempelt habe, damit ich schnell rauskomme. Soll er den Stift doch behalten, der ist mir gerade egal.

Vor dem Saal sehe ich die Gruppe nicht mehr. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Aber wieder zurück in die Vorlesung traue ich mich auch nicht zu gehen. Mit Sicherheit würden mich alle anstarren. Nein, darauf kann ich verzichten. Was für ein komischer erster Tag an der Universität. Aufgrund des schönen Wetters beschließe ich hinaus an die frische Luft zu gehen.

»Na, hat dir gefallen, was du gesehen hast?«, werde ich direkt gefragt. Vor Schreck drehe ich mich zur Seite. Von dort kommt eine Frau der Gruppe von eben auf mich zu und schaut mich belustigt an.

»Äh. Ich konnte ja nichts sehen.« Oh Gott. Peinlich.

»Wie schade. Das tut mir leid. Musst du dir beim nächsten Mal einen besseren Platz aussuchen«, antwortet sie trocken mit einem Augenbrauenwackeln.

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Erst laufe ich ihnen hinterher und jetzt steht eine von ihnen mir gegenüber und ich? Wie versteinert bin ich.

»Val, verschreck die Neue doch nicht gleich«, beginnt die Frau, die mir zugezwinkert hatte. »Du bist doch neu hier oder nicht?«, fragt sie dann an mich gerichtet.

Ich nicke mit dem Kopf und kurz darauf finde ich meine Sprache wieder. »Ja. Ich ... bin ... erst seit einer Woche in Westberlin und heute ... ist mein erster Tag hier«, flüstere ich fast und deute auf das Gebäude hinter uns.

»Wie süß«, meint Val. »Soph, wollen wir dann?«

Soph geht nicht weiter auf Vals Frage ein, sondern blickt mir tief in die Augen. Nicht angsteinflößend. Auf eine andere Art und Weise. Einordnen kann ich es nicht und sie bringt mich ganz durcheinander.

»Ja.« Soph lächelt mich an. »Süß bist du.«

Ich kann es nicht verhindern, dass ich grinsen muss, sicherlich laufe ich auch rot an und unangenehm ist es mir erst recht, während Val laut aufstöhnt. Daraufhin dreht sich Soph mit den Augen rollend um und geht mit Val weiter. Ich blicke ihnen hinterher und hoffe jetzt schon, dass ich sie ... also die beiden ... wiedersehen werde.

In meinem Körper hüpfen auf einmal Käfer herum, zumindest fühle ich mich glücklich hibbelig. Ich begebe mich wieder in die Uni und starte nun endgültig meinen ersten Hochschultag. Als ich einige Stunden später aus der gleichen Tür wieder hinausgehe, kann ich nichts dazu sagen, wie die Inhalte meiner Studienfächer sind. Meine Gedanken waren nur bei Soph ... und Val und der Gruppe natürlich. Ich denke, für den ersten Tag lief es ganz gut, rede ich mir schulterzuckend ein. Für den Rückweg muss ich glücklicherweise nicht über diese riesige Straße laufen. Somit kann ich nach ein paar Metern schon in den gerade herannahenden Bus einsteigen, der mich zu meinem Appartement bringt. Unwillkürlich muss ich schmunzeln, weil das Ehepaar, das mir das Zimmer im Dachgeschoss ihres Hauses vermietet, nur zugestimmt hat, da sie im Glauben sind, dass mein Partner noch nachkommt. Wie sollte ich es bei diesen ganzen moralischen Werten sonst machen? Meine Eltern haben mir zwar den Weg geebnet, wofür ich ihnen dankbar bin, doch alles Weitere soll ich selbst hinbekommen, wenn ich schon einen ganz anderen Weg als den von ihnen für mich auserdachten einschlage.

An der nächsten Station stellen sich meine Härchen schon auf, bevor mein Verstand es realisiert. Sie ist eingestiegen und in meinem Bauch flattert es wild umher. Einige von der Gruppe sind mit dabei und sie lachen und schwatzen fröhlich. Sie sind ausgelassen. Jedoch passiert dann etwas, was ich noch nicht oft mitbekommen habe.

Ein Kerl in unserem Alter packt Val an ihren Hintern, was nicht neu ist, doch ... sie wehrt sich. Sie schlägt die Hand von ihm weg. »Was soll das? Lass deine Hand bei dir, das ist mein Körper«, entgegnet sie ihm ins Gesicht und dreht sich wieder um. Mutig ist sie. 

Aber dann sehe ich, dass er das nicht so stehenlassen will. Ganz automatisch trete ich näher ans Geschehen. Es ist, als würde ich mich nur beobachten. Ich greife die Hand von dem Kerl, um ihn zu stoppen, denn er wollte Val gerade einen Klaps – oder mehr – geben. Ich sehe, wie seine andere Hand ausholt und ich ahne, was ich gleich zu spüren bekomme. Doch jemand anderes zieht mich weg. In grünschimmernde Augen schaue ich nun.

»Alles in Ordnung?«, fragt Soph, woraufhin ich lediglich nicken kann und hart schlucken muss. Ein Raunen geht durch den Bus und scheucht mich auf. Alle bestaunen diese Situation. Wie unangenehm. Und im nächsten Moment stoppt der Busfahrer.

»Raus mit euch. Welche wie ihr machen bloß Ärger. Los los. Raus.« Damit sind wir gemeint. Auch ich. Verständnislos und irritiert verlasse ich den Bus.

»Die kommen immer noch nicht damit zurecht, dass Frauen einen Mund haben«, höre ich Val beim Aussteigen sagen, während eine andere meint, dass der Bus sowieso boykottiert werden müsse. Die Gruppe scheint aufgeputscht und in guter Stimmung, trotz dessen, was sich gerade zugetragen hat.

»Immer noch alles gut?«, hakt Soph nach.

»Ich verstehe das alles nicht«, gebe ich ehrlich zu.

»Dass Männer Widerlinge sind?«

»Aber ... es gibt auch andere.«

»Sag Bescheid.« Sie lachen munter.

»Hör nicht auf sie. Natürlich gibt es andere, aber du lebst doch nicht hinter dem Mond oder doch? Du hast doch bestimmt gemerkt, was viele Männer meinen, machen zu dürfen, was ihnen in den Kopf kommt oder auch woandershin. Hm?«, spricht Soph mit einem leichten Schmunzeln wieder zu mir.

»Vielleicht. Aber provoziert ihr das nicht auch?«

»Klar provozieren wir mit unseren Aktionen, darum geht es doch. Aber was war zuerst? Wir machen das doch nicht ohne Grund.« Sie hebt ihre Augenbraue und ich muss lächeln.

»Hey ihr beiden. Können wir jetzt zum Club?«, ruft Val zu uns.

»Zum Club?«, frage ich schüchtern nach.

»Ja, wo wir unsere nächsten Provokationen aushecken«, antwortet sie keck.

Erst jetzt realisiere ich, dass wir von dem Halt weitergegangen sind und vor einem Eingang stehen. Der ist ziemlich abgerockt. Meine Eltern würden mich niemals durch so eine Tür hindurch lassen. Mir kribbelt es in den Fingern, doch gleichsam kreucht es mir den Rücken rauf. Ich kann so was nicht. Wie sie. Ich bin nicht so ... wie sie. Nicht so mutig.

Soph hakt ihren Arm bei mir unter und drückt die schäbige Holztür, die aussieht, als würde sie jeden Moment einfallen, auf. 

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