13 | An der Grenze

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Lenara, fällt mir bei den letzten Zeilen sofort ein! Wann habe ich mich das letzte Mal gemeldet? Wie spät ist es? Welchen Tag haben wir eigentlich? Ist es schon der nächste? Wie lange bin ich schon hier?

Ich bin immer noch aufgewühlt und kann nicht begreifen, wie mein Hirn mich so lange so krass abschirmen konnte. Doch schon, aber auch nicht. Mein Gemüt befindet sich irgendwo zwischen klamm und bedrückt sowie völlig am Abdriften. Hart an der Grenze zu allem irgendwie. Die Beklemmung und Verletzung bei Oma und Soph, auch wenn sie sich zu lösen scheint, tut ihr übriges. Aber das kann doch nicht alles gewesen sein. Vielleicht doch? Dann bin ich glücklich für die beiden. Oma ... Schon wieder bin ich im Jenseits – toll, wie passend – mit meinen Gedanken. Einerseits bin ich dankbar für die Erinnerung, doch andererseits auch überhaupt gar nicht. 

Ist das irgendwie verständlich? Ach egal. Handy! Lenara schreiben.

Oh je, sie hat bereits mehrmals geschrieben und angerufen. Da kann ich mich auf einiges gefasst machen.


Lenara   
Bitte melde dich. Ich mache mir
ernsthaft Sorgen!
08:31


Das ist die letzte Nachricht von Lenara von vor etwa eineinhalb Stunden, wie mir der Blick auf die Handyuhr verrät. Und ja, anscheinend haben wir den nächsten Tag. Acht verpasste Anrufe und weitere elf Nachrichten. Als ich unseren Nachrichtenverlauf hochscrolle, stelle ich geschockt fest, dass ich ihr gestern anscheinend noch geschrieben habe. Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

Ich schrieb, dass es mir nicht gut geht und ich es endlich weiß. Ich wusste es gestern schon? Soll mal jemand mein Hirn verstehen.


   Elja
 Len, es tut mir so leid. Ich
 mache das alles wieder gut.
 Irgendwie. Versprochen. Es geht
 mir wieder etwas besser.
 10:02


Dass mein schlechtes Gewissen ein noch höheres Maß erreichen kann, hatte ich vorher nicht gewusst. Aber es befindet sich mittlerweile im Stadium ›nicht mehr zu übertrumpfen‹, würde ich sagen. Da hilft nur Ablenkung. Aber bevor ich weiterlese, stelle ich mein Handy auf extra laut.

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Dezember 1970

Eine letzte Fahrt für dieses Jahr wird heute stattfinden. Unser Netz aus helfenden Menschen besteht. Gestern war die letzte Beratung bei uns im Club, welche nicht auf die Abtreibung gezielt abspielt, sondern zur Aufklärung dient und damit die Frauen herausfinden können, was sie wirklich möchten und nicht voreilig handeln. Dadurch haben sich auch schon Frauen gegen eine Abtreibung entschieden, obwohl sie mit dem Wunsch in die Sprechstunde kamen. Wir – beziehungsweise die Beraterinnen – wollen die Frauen in ihren Wünschen und Bedürfnissen unterstützen und ihnen nichts aufzwingen. Zwei fahren zur Begleitung mit den Frauen in die Niederlande mit. Eine als Fahrerin, eine weitere als Unterhalterin oder auch, um aufkommende Fragen zu klären. Val und ich bilden so ein Zweiergespann. Da Val einen Führerschein hat, fährt sie den Kleinbus. Wir treffen uns um acht Uhr in der Nähe des Omnibusbahnhofes, an einem festvereinbarten Treffpunkt – einen, den wir immer wieder variieren, nur für den Fall, dass uns doch jemand auf dem Kieker hat – und fahren gemeinsam los.

Als die Frauen schon eingestiegen sind, verharrt Val in der Tür zum Bus, lehnt sich an das Fahrzeug heran und schaut mich fragend an.

»Was?«, flüstere ich zu ihr rüber.

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