8 | Auch für uns

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Juli 1969

Ich kann es nicht glauben. Mit meinen Augen verfolge ich die dicken fetten Regentropfen an der Fensterscheibe dieses Autos, die so schwerfällig daran herunterrinnen, wie ich mich fühle.

Alles ging ganz schnell. Alles. Kaum zu glauben. Dass ich jetzt hier sitze ...

Denk an was anderes. Woran? Einfach was anderes! Mein Studium ... Dass es mir logisch und konsequent erschien, mein Studienfach Philosophie mit Sozial- und Politikwissenschaften zu ersetzen ... Ist es doch auch oder nicht? Ich erhoffe mir, noch mehr wichtige Erkenntnisse daraus ziehen und nach dem Studium weiterhin und vor allem auf einer professionellen Ebene eine solche Arbeit leisten zu können. Noch ein weiter Weg ...

Ich schaue zu, wie der eine runde Tropfen unten in der Rille, in der die Scheibe drin steckt, hängenbleibt. Verhöhnt er mich? Lenk dich ab!

Was gibt es noch? Die Ausweitung unseres Angebots im Frauenraum ... So nennen wir den Club nach außen jetzt.

Viele Frauen wollen unterstützen ... Das ist super. Dadurch sowie den engen Austausch zu anderen Frauengruppen konnten wir schnell eigene Angebote auf die Beine stellen. Zwei sich treffende Selbsthilfegruppen in der Woche und beinahe täglich Informations- und Aufklärungsgespräche. Selbstbestimmung der Frau und die gegenseitige Stärkung, das sind die momentane prägenden Themen, auch in der Selbsthilfegruppe. Die andere Gruppe – eine Lesbengruppe – hatte sich ebenfalls schnell zusammengefunden. Auch wenn ich mich nie so bezeichne, nehmen ich und Soph daran teil. Dort werden sowohl wichtige und interessante Inhalte zur Lesbischen Frauenbewegung als auch zur Schwulenbewegung offen besprochen.

In diesem Frauenraum fühle ich mich frei und aufgehoben. Und nun gehöre ich zu einer ausführenden Funktion. Ja, sonst würde ich kaum hier sitzen und aus Vals Autofenster hinausstarren. Auch wenn ich mich immer noch von diesen Regentropfen runtergezogen fühle. Oder eher von anderem. Ich reiße meinen Blick davon los und blicke Val an. Tough. Val eben. Macht sie sich nie Sorgen oder Gedanken? Darum beneide ich sie. Einerseits freue ich mich, dass mir betroffene Frauen insoweit vertrauen, dass ich an einigen ihrer Informations- und Aufklärungsgespräche als Beisitzerin beiwohnen darf. Andererseits – so spannend und gut zum Lernen sie auch für mich sind – sitze ich genau deswegen jetzt hier und warte nun. Glücklicherweise nicht allein. Sondern mit Val. Gemeinsam warten wir in ihrem Wagen auf eine Frau. Auf eine Frau, die dort – gegenüber in einem schicken Haus – gerade einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lässt. Mir ist mulmig, doch ich bin gar nicht die Betroffene.

»Val?«

»Es passiert nichts. Keine Sorge, Patti«, beruhigt sie mich zum wiederholten Male.

Es dauert schon so lang – die Regentropfen habe ich irgendwann nicht mehr zählen können – und nachdem ich von den vielen Abtreibungen bei irgendwelchen Kurpfuschern, wie sie sie nennen, gehört habe, wird mir ganz schlecht. Nicht, dass die Frau schlimme Folgen davon trägt oder ... gar nicht mehr zu uns zurück zum Wagen kommt. Das Harmloseste wäre für mich in diesem Moment, wenn sie uns wegen des Paragrafen 218 bezichtigen würden, der es Frauen verbietet abzutreiben.

»Guck mal, Patti«, reißt Val mich aus meinem erneuten Gedankenstrudel und ich mache mir schon Hoffnungen, doch ich kann sie nicht sehen. Ich folge ihrem Finger.

»Was ist da denn?«

»Erkennst du die Autos nicht?«

»Sehen wichtig aus.«

»Na eben. Das sind die Autos von zwei werten Ministern. Was denkst du, was deren Frauen gerade machen?«

»Meinst du?«

»Ich habe sie doch selbst reingehen sehen. Was anderes gibt es dort drinnen nicht. Sie wird zurückkommen. Die Minister schicken ihre Frauen nicht zu einem Kurpfuscher.«

»Das ist ja ...« Aus Frust fällt mir gar nicht das richtige Wort ein. Wie können sie nur? Unsere Verbündete musste ihr letztes Geld zusammenkratzen und dann hat es noch nicht gereicht. Also haben wir bei uns im Plenum gesammelt. Und das nur, damit sie nicht zu einem sogenannten Kurpfuscher muss. Zudem musste sie sich erst einmal schlaumachen, wo es einen Arzt gibt, der illegale Abtreibungen durchführt. Sie musste einen Weg voller Scham über sich ergehen lassen. Und jetzt sehe ich das hier ... Klar, die haben Geld und wissen, wo was zu finden ist. Sie bedienen sich also selbst den illegalen Methoden, aber sprechen sich nicht für Veränderungen im System aus. Heuchelei! Immerhin kann ich nun etwas mehr daran glauben, dass nicht jede Frau verfolgt wird, die abgetrieben hat. Sie machen sich ja selbst strafbar.

Es muss doch anders möglich sein und auch gemacht werden. So ist das einfach schrecklich. Einige Zeit später kommt die junge Frau leichenblass aus dem Gebäude heraus. Sie sieht gar nicht gut aus. Doch sie möchte weder zu einem Arzt noch etwas anderes. Einfach nur nach Hause. Aber sie möchte in der Nähe von ihrem Zuhause rausgelassen werden, weil ihre Sorge zu groß ist, dass ihre Eltern sie mit uns sehen könnten.

Den ganzen Tag bis in die Nacht verfolgt mich ihr Gesichtsausdruck, er geht mir nicht aus dem Kopf. Val erzählte mir, dass ein paar Ärzte zwar den Eingriff machen, deswegen die Mädchen und Frauen aber noch lange nicht wie Menschen behandeln. Das erschreckt mich. Ich hoffte bis heute, dass diese auf unserer Seite sind, doch wie mir scheint, versuchen sie nur Profit daraus zu schlagen.

Es muss anders möglich sein.

Dieses leichenblasse Gesicht ... Ich hoffe, es geht ihr gut und dass sie ihr Leben leben kann. Oh Gott, so blass, so kreidebleich. Ich schaue nach oben und wünsche mir so sehr, dass es ihr gut geht.

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Mit der Hand vor dem Mund, die ich mir bei diesen Zeilen dorthin geschlagen habe, betrachte ich noch immer diese Seite. Tränen laufen meine Wangen hinab. Ich konnte sie nicht aufhalten. Unwillkürlich musste ich an Lenara denken und so fingen meine Augen an zu brennen. Auch wenn es nicht vergleichbar ist und ihr Bäuchlein noch nicht mal ersichtlich ist ... und wir auch gar nicht abtreiben wollen ... Kann ich auch als Nichtschwangere Schwangerschaftshormone bekommen? Ich fühle mich gerade völlig mitgenommen.

Das ist doch aber auch wirklich fürchterlich. Langsam lasse ich meine Hand sinken und ziehe mir die Decke enger um den Körper, wodurch ich meine Gänsehaut nur noch mehr spüre. Das ist doch echt unbegreiflich.

Mit diesem Paragrafen 218 haben wir uns tatsächlich beschäftigt ... Unfreiwillig freiwillig ... Er weckt keine positiven Erinnerungen in mir. Lenara und ich haben uns an den Demonstrationen gegen den Zusatzparagrafen 219a beteiligt, wodurch sich sogar Ärzt*innen strafbar machten, wenn sie bloß auf ihrer Website erwähnten, welche Behandlungsmethode sie nutzen. Unbegreiflich. Andere werden dazu verpflichtet und ihnen wurde es verboten. Alles Heuchelei. Ich hoffe – wie viele andere Frauen auch –, dass der Paragraf 218 irgendwann wie der Paragraf 219a gestrichen wird. Ich würde es zu gerne miterleben, dass Frauen nicht nur straffrei bleiben – wohlbemerkt in bestimmten Situationen, wenn sie diese nachweisen können –, sondern sich gar nicht mehr erst strafbar machen müssten. Ich sehe da einen riesigen Unterschied. Der 218er steht noch immer im Strafgesetzbuch und das unter dem Abschnitt Straftat gegen das Leben, in dem auch Mord und Tötung aufgelistet sind. Genauso unbegreiflich oder?

Doch – anscheinend unter anderem dank dir, Oma – ist er zumindest leicht verändert im Gegensatz zu früher.

Was meine Oma und ihre Freundinnen alles auf sich genommen haben ... Ebenso unbegreiflich, doch in positiver Hinsicht. Und was dadurch in Wandlung kam ... Für sich selbst. Aber auch für uns ... 

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