14 | Schwestern

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In Schockstarre verfallen sitze ich da und warte auf die Person, die mich gleich angreifen wird. Gefühlt wird die Tür quälend langsam Millimeter für Millimeter aufgeschoben. Geht das bitte auch schneller? Was denke ich denn da?

Kann das jemand nachvollziehen? Oder bin ich die einzig Bekloppte?

Wie in einer Diashow schieben sich Bilder vor meinem geistigen Auge nacheinander gereiht. Wunderschöne aus der Kindheit mit meinen Eltern und meiner Oma, traurige und schmerzhafte – unter anderem mit Daniel, meinem Cousin –, dann fügen sich welche mit Lenara ein, wie wir uns kennengelernt haben und wie wir uns entschieden haben, eine Familie werden zu wollen. Unwillkürlich kommen weitere Bilder hinzu aus der Geschichte meiner Oma, von den Abtreibungsszenarien der letzten Abschnitte oder auch den Demonstrationen zu diesem Thema. Dramatische Bilder werden erzeugt. Neuer Schweiß bahnt sich über meinen Körper.

»Elja?«

Ach du Sch... Vor Schreck bin ich beinahe mit dem Kopf gegen die Schreibtischplatte gestoßen. Ich habe den Fokus verloren. Wer ist da? Ich schaue – wahrscheinlich so aufgescheucht wie ein Huhn – hervor und sehe in die schönsten Augen dieser Welt. Was macht sie hier? Anstatt sie weiter anzustarren, suche ich mein Handy. Was ist nur los mit mir? Kann mich irgendjemand verstehen?

Mittlerweile halb aus meinem Versteck rausgekrochen – nachdem ich mein Handy gefunden habe –, versuche ich mit zittrigen Händen den Chatverlauf zu öffnen, kann aber keine neuen Nachrichten ausfindig machen. Daraufhin blicke ich wieder auf. Sie steht doch wirklich dort oder nicht?

»Elja, alles in Ordnung bei dir?«

»Äh nein. Was machst du hier?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich wollte nach dir gucken.« Lenara kommt auf mich zu und ich sehe, dass sie nicht so recht weiß, was sie sagen oder tun soll, was sehr selten ist. Doch ich mache es ihr gerade auch nicht leicht. Dabei ist sie doch die Schwangere.

»Tut mir leid, Len. Ich habe gerade echt mit allem gerechnet, aber nicht mit dir«, bringe ich halb lachend, halb verzweifelt raus. Wahrscheinlich macht es das für sie nicht unbedingt besser, mich verstehen zu können.

Ich sollte ihr wohl besser ein wenig erklären. An ihrer Stelle wäre ich zumindest ratlos. »Vielleicht sollten wir runtergehen, gemeinsam frühstücken und ich erzähle dir einfach ein wenig?«, schlage ich deswegen vor und krabble nun vollständig hervor und stehe auf.

»Du weißt hoffentlich, dass wir bereits mittags haben?«, setzt sie mich fragend mit einer hochgezogenen Augenbraue, aber bereits munterer in Kenntnis. Ich kann nicht anders, als anzufangen zu lachen. Nicht herzhaft, aber ... Na ja.

Als ich mich wieder fange, nehme ich sie an die Hand, um mit ihr die Stufen hinunterzugehen. Gemeinsam, obwohl ich mich überhaupt nicht dazu in der Lage fühle, bereiten wir in einer angenehmen Stille das Frühstück alias den Brunch zur Mittagszeit zu. Habe ich mir zu viel zugemutet, indem ich meinte, es ihr erklären zu wollen? Auf einmal kommen mir extreme Zweifel. Ich kann das nicht!

»El, alles okay?«, durchbricht Lenara das Schweigen und mir fällt auf, dass meine Hände gar nichts mehr tun.

»Ich kann das nicht. Ich kann nicht. Ich weiß nicht ...«

»El ... Du musst gar nichts.« Fragend schaue ich sie über die Theke an. Reden wir vom Gleichen? Bevor ich mich überhaupt dazu überwinden muss, noch etwas zu sagen, umrundet Lenara bereits die Kochinsel und kommt auf mich zu.

»Len, ich ... ich weiß nicht, wie ich darüber reden soll.«

»Ist okay.« Ich lege meinen Kopf an ihre Schulter und meine Hand auf ihren Bauch. Unser Baby. Sie streicht mir über den Rücken.

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