März 1970
Endlich ist es so weit. Es könnte gemein klingen. Natürlich freue ich mich für die beiden. Andererseits genauso sehr bald nach Hause fahren zu können. Viel zu lange bin ich schon fort von Westberlin. So stehe ich hier und kann beides kaum erwarten.
Wie viele Menschen doch geblendet sind oder sich vielmehr täuschen lassen. Gabriele ist schwanger. Klar, ich weiß um den Zustand Bescheid und ihr Bauch verrät noch nichts. Doch für mich ist es so offensichtlich wie im Frühling die Blumen neu erblühen.
Die Musik ertönt ganz zart, ein Raunen ersetzt das leise Getuschel sowie die darauffolgende einsetzende Stille und dann ... Alle Augenpaare richten sich auf sie. Meine Augen huschen jedoch zunächst zu Rüdiger. Sein Anblick gleicht dem eines aufgeregten Schuljungen. Ich frage mich, ob er es weiß, ... dass seine baldige Frau bereits ein Kind von ihm erwartet. Allerdings – und viel wichtiger – kann ich seine Liebe für sie in seinem Blick erkennen. Das gibt mir Sicherheit, mit der auch ich mich Gabriele zuwenden kann.
Erhard, ein guter Freund der Familie, den wir Onkel nennen, obgleich er mir fremder ist, als mein Vater es mir war, geleitet meine Schwester nach vorne. Gabriele betritt an seiner Seite in einem wunderschönen und schlichten weißen Kleid den Kirchengang. Unsere Blicke treffen sich. Ihr Strahlen ist voller Freude und ich weiß, dass sie glücklich ist. Ich nicke ihr fast unmerklich zu. Mit den nächsten Klängen der Melodie schreiten sie auf uns zu.
Schräg seitlich hinter mir in der ersten Sitzreihe kann ich meine Mutter leise schluchzen hören. Sie ist gerührt und mit Sicherheit erwärmt es ihr Herz, dass eine ihrer Töchter diesen Schritt wagt. Jedoch wird sie wahrscheinlich gleichermaßen an ihren Verlust erinnert.
Erhard übergibt Gabriele Rüdiger und bewegt sich dann zu der Bank, auf der auch meine Mutter sitzt und nimmt neben ihr Platz. Ich gehe einen halben Schritt zurück und drehe mich zu Braut und Bräutigam. Der Pastor begrüßt alle Anwesenden und beginnt mit der Zeremonie, wobei ich mein Lächeln überprüfe.
»Ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens. Ich verspreche dir die Treue in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis das der Tod uns scheidet. Dazu helfe mir Gott!« Worte, die mich ins Hier zurückholen. Worte, die sie sich beide nacheinander versprechen, während sie sich die Ringe anstecken.
»Reichen Sie nun einander die Hand. Gott, der Herr, hat Sie als Mann und Frau verbunden. Er wird Ihnen treu zur Seite stehen und das Gute, das er begonnen hat, vollenden«, beendet der Pastor die Vermählung. Woraufhin sich Rüdiger und Gabriele tief in die Augen schauen und sich dann einen leidenschaftlichen Kuss geben.
Bei dem Bild flammt in mir eine unbändige Sehnsucht auf und erzeugt ganz andere Traum- und Wunschvorstellungen in mir. Vor allem mit Soph. Ich vermisse sie. Mit aller Anstrengung, die ich aufbringen kann, unterdrücke ich die aufsteigenden Tränen.
Als wäre ich in Trance, verfolge ich die weiteren Abschnitte gedämpft. Nur durch eine Art Tunnelblick nehme ich wahr, wie das Gebet gesprochen wird und die Zeremonie ihr Ende findet, genauso wie wir hintereinander aus der Kirche schreiten. Und wie wir daraufhin den langen Pfad vom Berghügel hinunter in unseren Ort schlendern bis hin zu unserer Dorfschenke, in der wir uns nochmals sammeln, um das Brautpaar gebührend zu feiern.
Die Zeit scheint für mich mit dem Moment in der Kirche stehen geblieben zu sein, als mir schmerzlich etwas bewusst geworden ist. Ist es schon zu spät?
Auf der anderen Seite wurde mir durch die Zeit, die ich hier verbringen durfte, etwas geschenkt. Erlebnisse, die ich nie für möglich hielt, mit meiner Mutter und meiner Schwester. Sie haben uns näher gebracht.
Meine Mutter nimmt mich zur Verabschiedung in ihre Arme – was mich sehr überrascht – und wünscht mir alles Gute. Verständnis für die jeweilige Lebensweise können wir mittlerweile aufbringen. Das ist viel mehr, als ich je geglaubt habe. Ihr fällt es sichtbar schwer, mich ein zweites Mal gehen zu lassen. Sie blickt mich mit glasigen Augen an, hält mich – oder eher sich selbst – an meinen Oberarmen fest, drückt noch einmal sanft zu und lässt mich dann frei. Ich lächle sie dankbar an und widme mich dann meiner kleinen Schwester, die erwachsen geworden ist. Immerhin ist sie mittlerweile achtzehn Jahre alt und seit heute stolze Ehefrau und baldig ebenso Mutter. Ich schließe sie in meine Arme und erneuere mein Angebot, auch wenn ich nun weiß, dass sie glücklich ist. Sie lockert kurz die Umarmung, schaut mich an und begibt sich erneut in unsere Vereinigung.
»Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du ebenso zu mir kommen, Schwesterherz«, flüstert sie mir zu und lässt mich mit ihren Worten von innen her erwärmen. Dabei kommt mir wieder die Frage in den Kopf. Ist es zu spät für Soph und mich? Mit einem Kloß im Hals nicke ich in ihr dichtes gewelltes Haar hinein. Vielleicht später einmal. Nicht in absehbarer Zukunft. Dafür ist mir die vergangene Zeit zu kostbar.
Wir wünschen uns gegenseitig viel Glück, Gesundheit und Liebe und dass uns unsere Wege gelingen mögen. Dann wende ich mich von ihnen ab, greife mit meiner rechten Hand meinen Koffer und steuere den Zug an. Aus dem Fenster des Zuges winke ich ihnen noch einmal zu. In diesem Augenblick spüre ich, wie ein Teil von mir abhanden kommt, ich es verliere, es hierbleiben wird ... Tränen lösen sich aus den Augenwinkeln, tropfen mir auf die Wange. Es schmerzt verdammt noch mal viel zu sehr. Viel mehr, als ich je für möglich hielt.
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Ich fühle mich wie in einem Sog, der mich immer tiefer mit sich zieht. Er ist so widerspenstig wie Triebsand, der einen in seinen Klauen gefangen hält.
Du hast verloren, sobald du anfängst, dagegen anzukämpfen. Doch dein Instinkt zwingt dich dazu. Du fürchtest dich, daher strampelst du wild umher.
Diese Schreie. In meinem Kopf. Sie sind markerschütternd. Sie sollen aufhören. Doch egal, was ich tue, sie werden lauter, jagen mir einen Schauer nach dem nächsten den Körper rauf und runter. Ich muss durchhalten. Das weiß ich. Doch es ist kaum aushaltbar. Wann kommt wieder diese Stille? Bitte! Lass es vorbeigehen! Bitte ...
Ich kauere auf dem Boden – keine Ahnung, wann und wie ich dorthin gekommen bin – in meiner Rotze. Meine Wangen sind nass, ... aber nicht nur die.
Dieses Kreischen dringt in jede meiner Poren und alarmiert meinen Körper ... Mit meinen Händen im Nacken umklammere ich mich, sodass meine Ellenbogen sich vor meinem Kopf treffen und sowohl meine Ohren als auch mein Gesicht geschützt werden. Ein Schluchzer dringt durch, den ich nicht mehr aufhalten kann. Und mit diesem ist es um mich geschehen. Um mich herum scheint alles wegzubrechen. Ob ich gleich versunken bin? Oder einfach ins Nichts falle? Dankend nehme ich die Dunkelheit an, die mich bereits umzingelt.
Ich bin bereit. Stille.
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Historical Fiction◦𝗛𝗶𝘀𝘁𝗼𝗿𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲-𝗔𝗸𝘁𝘂𝗲𝗹𝗹𝗲 𝗟𝗶𝘁𝗲𝗿𝗮𝘁𝘂𝗿 & 𝗥𝗼𝗺𝗮𝗻𝘁𝗶𝗸◦ Schnieke und vornehm auf der einen - hip und inmitten der Szene auf der anderen Seite. Zwischen alldem findet sich Elja wieder, die diese zwei Seiten ihrer Großmutter i...