21 | Unschlüssig und überfordert

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So hatte Daniel sein Kuscheltier-Meerschweinchen vorgestellt. Flecki. Links von ihm – oder ihr oder es? – zeigt mein Handy gerade an, dass Len geschrieben hat. Somit greife ich danach und tippe doppelt auf die Pushbenachrichtigung.


Lenara   
Ich hab alles. Fahre noch kurz
nach Hause und komme dann
zurück. Bis bald
14:42


Beim Lesen der Worte ›nach Hause‹ durchzuckt mich ein merkwürdiges Gefühl. Wie viele Tage war ich schon nicht mehr in unserer Wohnung? Wie viele bin ich jetzt schon hier? Vielleicht vier? Oder fünf, sechs, sieben? Nein, sieben bestimmt nicht, dann hätte Lenara etwas gesagt. Von dem Ausmist-Aktionstag ausgehend hatte ich noch sieben Tage, bis ich die Entrümpelungsfirma zurückrufen sollte. Aber wie lange habe ich noch zum Überlegen und warum drücke ich mich nur vor alldem? Und wieso ... fühlt es sich hier schon beinahe so vertraut an?

Unschlüssig und überfordert schüttel ich den Kopf über mich selbst – mal wieder – und erhebe mich von Omas Thron, um ins Badezimmer zu gehen. Eine heiße Dusche kann wahre Wunder bewirken. Hoffe ich doch. Länger als es mir eigentlich aus vielerlei Hinsicht lieb ist, bleibe ich unter dem Wasser stehen und sehe zu, wie das Wasser im Abfluss fortgespült wird. Für einen kurzen Augenblick habe ich das Gefühl, dass es meine Sorgen mit sich nimmt. Doch als ich die Duschkabine verlasse, spüre ich die ganze Last wieder auf mich herabsinken.

Erinnerungen haben ihren Preis. Jedoch kann mit ihnen die Heilung beginnen, fallen mir Omas Worte ein.

Wie gerne ich die Zeit nur zurückdrehen wollen würde, um mit ihr noch wenigstens einmal hier oben in unserem Paradies einen Erzählabend verbringen zu können. Das geht nicht ... Es ist nicht möglich ... Statt mich irgendwelchen trüben Gedanken hinzugeben, begebe ich mich lieber wieder auf ihren Thron und blicke Flecki an. »Ein bisschen Zeit haben wir noch Omas Geschichte zu erkunden. Bist du dabei?« Okay, gut.

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April 1973

Alles in diesem Appartement erinnert mich an sie. An Soph. Sophia. Sophia Weide. Ihr Name. Meine Liebe. Obwohl sie in allem ist, hier in diesen Räumlichkeiten, als wäre alles zwischen den Wänden gefangen, komme ich nicht davon los; vergrabe ich mich hier. Es ist, als ob sie mich verlassen hätte und nicht andersherum. Ich wende mich erneut in den Laken meines Bettes.

An diesem Tag im Februar ... Nachdem unsere Tränen versiegten, unsere Augen müde und erschöpft wurden, ließen wir voneinander ab. Es war und ist richtig, das weiß ich. Vom Kopf her. Aber mein Herz ... spielt verrückt. Mein Inneres verlangt nach ihr. Immer und immer wieder spule ich die Momente unserer letzten Begegnung ab. Es war ihr anzusehen, wie viel Kraft es sie kostete, sich zu erheben. Sich auf den Weg zu machen. Sich wirklich zu verabschieden. Mit meinen Fingern fahre ich über meine Lippen, die auch sie an jenem Tag noch einmal berührte. Verzweifelt hat sie mich angeschaut, vermutlich gehofft und gebangt, dass ich eine andere Entscheidung fällen; sie zurückhalten würde. Doch ich konnte nicht. Für uns beide.

Wissend nickte sie und beugte sich leicht zu mir. Sie verband unsere beiden Münder zu einer sanften Vereinigung. Daraufhin schlüpfte sie in ihre Schuhe und dann aus der Tür hinaus. Ich starrte ihr hinterher, auf die blanke Tür des Appartements, horchte ihren hastigen Schritten auf der Treppe, bis auch die Haustür unten zufiel. Dann rannten erneut stumme Tränen meinem Gesicht runter. Sie war fort.

Mittlerweile liege ich auf meinen Ellenbogen abgestützt und blicke ebenso auf die Tür des Appartements. Ich sollte langsam los. Zur Uni. Zumindest hatte ich es vor. Wie bereits oft. Heute ist wieder so ein Tag, an dem mir alles sehr schwerfällt.

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