9 | An einem einzigen Tag

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September 1969

»Die Entkriminalisierung schwuler Männer beginnt endlich!«, hören wir schon kreischen, als wir den kleinen Raum betreten, in dem die Lesbengruppe wöchentlich zusammenkommt. Soph und ich müssen grinsen. Natürlich haben wir es auch mitbekommen und freuen uns genauso für unsere männlichen Mitstreiter, dass sie einen Erfolg erzielt haben. Ein Fortschritt mit Einschränkung, aber endlich geht es voran.

»Ja, nun dürfen sie Sex haben und rumknutschen, wenn auch erst ab einundzwanzig Jahren«, ruft Soph zurück. Ein gewisser ironischer Ton ist rauszuhören, denn traurig ist es schon, dass sich jüngere Männer immer noch verstecken müssen und bloß nicht erwischt werden dürfen und selbst in dieser Sicht zwischen Frauen und Männern ein Unterschied gemacht wird. Strafbedingt mal positiv für uns – gar keine Frage. Aber um ehrlich zu sein, werden wir mal wieder zum schwächeren Geschlecht degradiert – und die homosexuellen Männer unverschämterweise zum triebgesteuerten. Einfach nur menschenverachtend. Sie verstehen es nicht.

Die heutige Nachricht beflügelt und bestärkt uns dennoch für die anstehende Demonstration, auf die wir gleich noch gehen. Ein paar Plakate und Transpis bereiten wir noch auf die Schnelle vor.

Hand in Hand marschieren wir wenig später die Straßen entlang. Mittlerweile schließen sich immer mehr an. Das ist wahrlich toll mitzuerleben. Unsere Rednerinnen wechseln sich ab und immer wieder rufen Frauen von uns unsere Forderungen aus.

Soph und ich blicken uns an und nicken. »Frauen bildet Banden, Ziele sind vorhanden!« Das ist nur einer unserer Sprüche, doch wir wussten beide, dass wir diesen rufen werden. »Frauen bildet Banden, Ziele sind vorhanden!«, rufen wir erneut, wobei sich andere anschließen. Kurz darauf macht unser Demonstrationszug eine Pause. Eine mir unbekannte Frau bekommt das Megafon gereicht.

»Bei der heutigen Demo – für die, die es noch nicht mitbekommen haben – machen wir darauf aufmerksam, wo wir stehen und fordern, was wir wollen. Mit wir sind wir Frauen gemeint. Uns geht es um das Recht auf Selbstbestimmung der Frau; das Ende der Bevormundung; Aufklärung; Streichung des Paragrafen 218; Verhütungsmethoden und noch vieles mehr! Schließt euch an.« Sie macht eine kurze Pause und setzt dann noch einmal das Megafon an. »Frauen bildet Banden, Ziele sind vorhanden!« Wir steigen in die Parole mit ein. Ich schaue um mich und nehme es in mich auf, wie viele Frauen da sind. Wir sind nicht allein. Wir sind nicht nur eine. Wir sind hier und wir sind laut. Mit einer Gänsehaut auf den Armen blicke ich wieder zur Rednerin. Sie lässt das Megafon sinken und wirbelt mit der Hand als Zeichen in der Luft so herum, dass es für uns alle verständlich ist, dass es weitergehen kann.

Laut rufen wir unsere Parolen weiter durch die Gassen – unbekümmert, ob andere uns begaffen. Sobald ich in einer Gruppe unterwegs bin, die mich bestärkt, kann ich das ungute Gefühl ablegen. Dann kann ich laut sein und für uns einstehen. Ich kann dann ich sein.

Mit einem positiven Gefühl und voller Euphorie gehen Soph und ich gemeinsam zu mir. Innerlich voller Verlangen freue ich mich schon auf unsere Zweisamkeit. Mein Lendenbereich prickelt schon und ich kann es kaum abwarten. Sophs Augen verraten mir, dass es ihr ganz ähnlich geht, das macht es für mich noch aufregender.

Kichernd poltern wir durch den Eingang in das Treppenhaus hinein. Ob das Ehepaar es schon aufgegeben hat, auf die Ankunft meines angeblichen Verlobten zu warten? Meine Mundwinkel zucken dabei. Ich öffne noch schnell meinen Briefkasten und tatsächlich liegt dort ein Kuvert drin. An der Schrift erkenne ich sofort, von wem der ist. Mit einem Schlag ist meine gute Laune verflogen. Das Prickeln wurde mit fortgespült. Als wäre es nie da gewesen. Mich füllt eine Leere aus. Was könnten sie von mir wollen? Wir haben ein Übereinkommen. Sie lassen mich in Frieden mein Leben leben und ich nehme dafür ihr Geld nicht. Und jetzt halte ich einen Brief von ihnen in meiner Hand.

»Was ist los, Patti?« Eine Hand streichelt meinen Arm. »Von wem ist der?« Soph merkt sicherlich, dass etwas nicht mit mir stimmt. »Rede doch mit mir.«

Langsam drehe ich mich zu ihr um. »Der kommt aus der Heimat«, sage ich mechanisch aus.

Sie ahnt, was das zu bedeuten haben kann und warum ich so reagiere, wie ich es tue. Sie folgt mir schweigend die Stufen hinauf. Ich weiß nicht einmal, was mir lieber wäre, aber es ist in Ordnung so.

Mit so einem Wandel an einem einzigen Tag habe ich nicht gerechnet. Einer, der alles ändern kann.

Oben angekommen ziehe ich mir meine Schuhe aus und setze mich auf meinen Küchenstuhl an meinen Küchentisch und starre lediglich auf dieses Kuvert. Auf einmal fühle ich mich ganz kraftlos.

Doch alles nützt nichts. Ich muss es hinter mich bringen. Daher öffne ich den Brief, ganz vorsichtig stecke ich meinen Nagel des Zeigefingers hinein und reiße den Umschlag auf. Langsam und zittrig entnehme ich das Papier, falte es auf und beginne zu lesen. Im Rücken spüre ich den angespannten Blick von Soph.


Liebe Patrizia, 
Wir hoffen, dass Du wohl auf bist und Du an Deinem Studium in Westberlin Gefallen findest.
Leider muss ich mich mit einer traurigen Nachricht an Dich wenden. Vater geht es nicht gut. Er ist sehr krank. Wir wissen nicht genau, was ihn plagt. Mutter sagt, es sei ein drastischer Virus. Das soll der Doktor Vater und er dann Mutter gesagt haben. 
Sobald Du diesen Brief bekommen hast, mach Dich schnell auf den Weg nach Hause. Mutter und Vater kümmern sich darum, dass Deine Unkosten in der Zeit gedeckt werden. So lange werden sie Deine Miete und die Universitätsgebühren übernehmen. Alles Weitere, unter anderem über Deine weitere Zukunft, werden sie mit Dir hier sprechen wollen. 
Bis bald. 
In Liebe 
Deine Schwester Gabriele 


Ich drehe mich zu Soph um. Ihre glasigen Augen verraten mir, dass sie sich den Inhalt des Briefs denken kann.

Eine unangenehme Stille entsteht zwischen uns, in der wir uns einfach nur anschauen und nicht wissen, was wir uns sagen sollen. Vielleicht haben wir auch einfach Angst, mit jedem Wort etwas mehr kaputtzumachen.

Gerade als ich meine Lippen öffne, sehe ich, wie sie beginnen möchte, etwas zu sagen. Also schließe ich meinen Mund wieder und warte.

Doch sie tut es mir gleich. So warten wir beide erneut und harren aus.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stehe ich auf und gehe zu meinem Schrank. Ich ziehe meinen Koffer hervor, lege Stück für Stück einige meiner Kleider hinein und hoffe insgeheim, dass es ein Traum ist.

»Bitte geh nicht«, flüstert Soph.

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Warum tut sie mir das an? Warum tun sie ihr das an? Warum tut sie ihr das an?

Warum das alles? Erst so schön und fröhlich. Und dann?

Ich hoffe, sie hat sich gesträubt! Unfassbar, dass ich mit meiner Oma so mitfühlen kann und mit Soph, die ich nicht mal kenne. Aber auch meine Oma ... Es ist, als hätte ich sie nie richtig gekannt. Ist es meine Schuld? Warum habe ich mich nie bei ihr gemeldet?

Dieses Zwicken in meiner Brust ... Begleitet von diesem unguten Gefühl. Nein, es ist mehr als das.

Mir wird ganz schummrig auf einmal. Schnell greife ich nach meiner Wasserflasche. Es ist bestimmt nur mein Kreislauf. Mist! Ich erwische sie nicht richtig.

Da! Ich höre etwas. Schreit da jemand? Während ich versuche genauer hinzulauschen, überkommt mich ein eisiger Schauer. Wahrnehmen kann ich nur noch, wie die Wasserflasche vor meinen Füßen auf dem Boden rollt. 

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