28 ~ Auf der anderen Seite der Angst

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Es ist halb sechs Uhr morgens und ich fühle mich schwer. Bleischwer. Hier im Dämmerlicht kommt mir das, was in den letzten Tagen passiert ist, wie ein seltsamer Traum vor. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet?

Mit den Beinen strample ich mir die Bettdecke vom Körper, weil mir unglaublich heiß ist, kurz darauf ziehe ich sie wieder über mich, weil ich fröstle. Die Gedanken wirbeln wie ein Tornado in meinem Kopf, drehen sich im Kreis, und machen mich völlig verrückt. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan. Im Schein des Mondlichts starrte ich Stunde für Stunde die Decke an, so wie Trace es getan hat, als er hier war.

Sehnsuchtsvoll denke ich daran zurück, wie er neben mir im Bett lag. Ihn nahe bei mir zu haben hat sich so gut angefühlt. So echt und absolut richtig.

›Er ist schuld daran, dass es dir jahrelang schlecht ging, Liv. Du kannst ihm nicht vertrauen. Vergiss ihn!‹, zischt die böse, zweifelnde Stimme in mir.

Doch mit einem Mal ist mir klar, dass das nicht stimmt.

Die Wahrheit tut weh, weil ich mich vor mir selbst schäme. Für viel zu lange Zeit war ich nicht in der Lage, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Es kam wie gerufen, dass ich Deacon für alles verantwortlich machen konnte, was bei mir schieflief. Er war meine perfekte Ausrede. Ich habe mich in mein Schicksal ergeben und keine Lösungen mehr gesucht. Ich habe niemanden mehr an mich herangelassen, weil mein Vertrauen einmal enttäuscht wurde. Ich habe einfach aufgehört zu kämpfen.

Trace hingegen hat alles riskiert, was ihm wichtig ist, nur um mit mir zu reden. Seine Karriere, seine Freundschaften und sein Vermögen. Weil er mich liebt und ich ihm am wichtigsten bin.

Er ist viel stärker als ich. Ich habe aufgegeben und er nicht.

Ich kann das ängstliche, verschlossene Mädchen bleiben, das ich in den letzten zehn Jahren war, aber ich bin nicht dazu verpflichtet. Ich kann mich für etwas anderes entscheiden. Für die Liebe und das Vertrauen. Und für das Risiko.

Die Sehnsucht nach ihm überschwemmt mich förmlich, reißt alle Ängste und Zweifel mit sich, und plötzlich weiß ich, was ich tun muss. Ich springe aus meinem Bett, schlüpfe in eine Jeans und irgendein T-Shirt und ziehe die Reisetasche meiner Mom vom Schrank. Wir haben sie nie für Reisen benutzt, sondern nur für ihre Krankenhausaufenthalte. Damit ist jetzt Schluss. Diese Tasche wird nun endlich reisen, und zwar zusammen mit mir. Ich werde mein Leben in die Hand nehmen und etwas riskieren.

Alles, was ich will, liegt auf der anderen Seite dieser blöden, mein Leben bestimmenden Angst. Ich muss sie nur überwinden.

Eine Stunde später steige ich ins Taxi. Trace hat mir verraten, dass die Band um sieben Uhr beim Hotel in den Bus steigt, und zum nächsten Konzertort abreisen wird. Ich würde ihn gern anrufen, doch dummerweise war ich letzte Nacht so durch den Wind, dass ich mein Handy gar nicht zum Laden eingesteckt habe. Es war kein Funken Akkukapazität mehr übrig, als ich es vorher in meine hintere Hosentasche geschoben habe.

Ich sehe aus dem Fenster und die Häuser meiner Stadt ziehen an mir vorbei. Normalerweise würde ich jetzt zur Arbeit gehen. Dass ich es nicht tue, dass ich stattdessen zu ihm fahre, fühlt sich einen Moment lang wundervoll an. Atemberaubend, leicht und frei.

Doch schon im nächsten Moment meldet sich die Angst zurück wie eine Faust, die sich mir mit Wucht in den Magen rammt. Trace hat keine Ahnung, dass ich komme. Er wartet nicht auf mich. Die Angst vor der Zurückweisung, davor, dass er mich einfach wieder verlässt, davor, dass alles nur ein Spiel war, oder nicht mehr als ein Traum, nimmt mir kurz den Atem.

Ich zwinge mich dazu, ruhig und tief Luft zu holen. »Er wartet auf der anderen Seite der Angst, Liv. Du musst sie nur überwinden«, flüstere ich mir selbst Mut zu, während das Taxi auf den Parkplatz hinter dem Hotel einbiegt.

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