Prolog

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Er rannte
Angstschweiß lief über seine Schläfen, während unter seinen Sohlen bei jedem Schritt kleine Ästchen brachen und sich Steinchen in seine nackte Haut bohrten.

Wie das Donnern einer Kirchenglocke hallte sein Herzschlag durch seinen Kopf, als würde der eigener Körper seine letzten paar Minuten abzählen.

Straße.

Er musste zu einer Straße kommen.

Dort könnte er einen Wagen anhalten. Sich zur nächsten Polizeiwache fahren lassen und somit ihm entkommen.

Ihm, der mit den silbernen Haaren und grauen Augen. Mit den markanten Wangenknochen und dem trainierten Körper.

Er hätte einfach zuhause bleiben und sich nicht zu einer langen Nacht überreden lassen sollen.

Daran durfte er nun nicht denken.

Wo war die nächste Straße? Um einen besseren Eindruck von der Situation zu kriegen, hätte er stehen bleiben müssen, doch er war bestimmt nicht weit entfernt.

Da, ein Licht.

Erleichterung kam in dem jungen Mann auf. Er lief auf den kleinen Punkt zu, welcher wie ein Feuer der Hoffnung leicht in der Ferne flackerte.

Er könnte sich retten, könnte weiterleben.

Vielleicht würde er doch noch die Abifeier seiner Nichte mitbekommen, könnte sich mit seinen Eltern versöhnen und vielleicht würden sie ihn sogar akzeptieren.

Nein, keine Gedanken über die Zukunft.

Es galt nur das Hier und Jetzt.

Stechend machte sich die kalte Nachtluft in seinen Lungenflügeln breit, bevor sein Zwerchfell wieder alles herausdrückte. Laufen, er musste einfach laufen. Kam das Licht ihm überhaupt näher?

Plötzlich trafen seine Füße auf etwas Kühles, Nasses und bevor sein Gehirn es realisieren konnte, rutschte er auf den glitschigen Kieseln aus und fiel hart in den flacheren Teil des Sees.

Nein...

Nein!

Sofort versuchte er, sich wieder aufzurichten, doch rutschte erneut aus und diesmal konnte er sich nicht abfangen. Ein lautes, ekelerregendes Knirschen erfüllte die Nacht, als sein Kopf auf die Steine krachte und sein unterer Kieferknochen brach. Der stechende Schmerz ließ ihn fast schon blind werden und so gerne er laut aufgeschrien hätte, sein Mund blieb geschlossen. Eisern schmeckte er das Blut auf seiner Zunge, als er sich wieder aufrichtete. Diesmal vorsichtiger als zuvor.

Er hatte sicherlich noch etwas Zeit, bis er ihn eingeholt hatte, oder?

Gerade als er sein Bein anhob, um wieder aufzustehen, spürte er es. Die eiserne, kalte Klinge an seinem Hals, vor welcher er geflohen war.

Er hatte ihn also eingeholt.

Sanft strich der Mann über sein Haar, während er das Messer an seine Kehle hielt.

,,Wir hatten doch solchen Spaß, wieso musstest du laufen?", flüsterte der Mann, während er durch die Kälte und die Angst zu zittern begann. Obwohl er versuchte, keine Schwäche zu zeigen, begannen vereinzelnd Tränen über seine Wangen zu laufen und trotz des gebrochenen Kiefers versuchte er zu sprechen: ,,Bitte! Ich will noch nicht sterben! Ich werde niemanden, bitte lassen Sie mich am leben. Ich sage nichts!"

Doch das, was aus seinem Mund kam klang nicht nach Wörtern. Es waren eher Laute, wie die eines verängstigten Tieres.

Ein Wimmern vor dem Tod.

Bilder der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt