Während die Fahrt, wie erwartet, länger gedauert hatte, waren bereits die Ergebnisse der KTU eingetrudelt. Die Videoaufnahmen hatten bestätigt, dass alle drei Mordopfer vor ihrem Auffinden bei Ludwig zu Gast gewesen und von dem Mann auch unter Drogen gesetzt worden waren. Während Mara sich auf die Straße konzentrierte, zwang sich die Neue, immer und immer wieder die Aufnahmen anzuschauen, welche ihnen geschickt wurden. ,,In jedem einzelnen Videos kann man sehen, wie Doktor Ludwig den Männern das Mittel verabreicht. Meist wie auch bei Herrn Nowak, ich mein Julius, nachdem er ihnen etwas zu trinken gegeben hat. Dann, bamm", erläuterte Stephanie und stupfte Mara etwas heftiger in den Oberarm: ,,Haute er ihnen die Spritze rein." ,,Danke für die Verbildlichung. Nächstes mal aber bitte nicht, wenn ich gerade Auto fahre." ,,Tschuldigung", nuschelte die Frau und vergrub sich fast im Beifahrersitz vor Scham. Gott, die Neue musste sich nun wirklich mal ein Rückgrat wachsen lassen. Dafür, dass die Neue vielleicht nur knapp einen halben Kopf kleiner als der Riese Julius war, rannte sie wirklich wie ein kleines graues Mäuschen herum. Ohne wirklich daran denken zu müssen schaltete Mara zurück in den ersten Gang, während sie an einer Kreuzung hielt. ,,Ist frei?" ,,Jup", kam innerhalb von Sekunden von der Neuen zurück und tatsächlich war die Strecke frei. Dennoch vorsichtig fuhr die Kommissarin über die Straße, schließlich war ihr bewusst, dass sich nicht nur eine Rettungswache in der Nähe befand, sondern auch eine Feuerwache. Die nächsten Minuten herrschte Stille, doch nicht, weil beide Frauen konzentriert waren, sondern da sie einfach schwiegen. Nicht in der angenehmen Weise, wenn man einfach nebeneinander existierte, sondern die unangenehme Art, wenn eigentlich etwas ausgesprochen gehörte, was sich keiner anzusprechen traut. Statt darauf einzugehen, riss Mara ein anderes Gesprächsthema an: ,,Wie kamst du zu deinem Spitznamen?" ,,Das ist eine lange Geschichte, nun ja, eigentlich nicht wirklich. Einer der Lehrer in Fürstenfeldbruck wirft ja immer mit etwas nach einem, wenn man sich während seiner Vorlesungen unterhält und meine beste Freundin kannte jeden Klatsch aus unserer Truppe. Jedenfalls konnte ich die Dinge immer fangen und war auch bei dem Reaktionstest mit der Waffe immer die Schnellste." ,,Franz Müller. Von ihm habe ich sogar die Fernbedienung des Beamers an den Kopf geschmissen bekommen", schmunzelte die Kommissarin und setzte erneut den Blinker. ,,Ich hab während des Studiums eher negative Spitznamen bekommen." Wieder verfiel die Neue in ein Schweigen, welches jedoch nicht so lange hielt wie das zuvor. ,,Zuerst war es auch nicht nett gemeint. Bei einer Übung hatte ich meinen Teamführer getroffen, da ich ihn mit seinem Zwillingsbruder im anderen Team verwechselt hatte. Daraufhin meinten alle, ich würde nur treffen, wenn es um Noten, nicht um Menschenleben geht." Zerknautscht versuchte sich Stephanie in ihrem Sitz zu vergraben, weswegen Mara sich entschloss, sich zu öffnen. Zumindest für einen Teil. ,,Mich nannten sie Elfchen. Gerade groß genug für den Polizeidienst. Dann auch noch ehemalige Tänzerin und eher zierlich gebaut. Ich musste erst einem die Fresse polieren, bis sie mich bei meinem Namen genannt haben." ,,Den Tipp hätte ich vor zwei Jahren gut gebrauchen können, dennoch danke", kicherte die Frau fast schon und lächelte tatsächlich wieder. Auch wenn sie die Neue noch nicht wirklich leiden konnte, sie könnte zumindest dafür sorgen, dass sie es nicht merkte. Außerdem war das, was auf sie zukommen würde, eine der unangenehmsten Aufgaben, die es im Polizeiwesen gab. ,,Als du die kurze Zeit in Ingolstadt warst, hast du da schon eine Todesbekundung gemacht? Beziehungsweise informiert, dass der Mörder des Opfers gefangen wurde?" ,,Nicht wirklich. Also natürlich wars nicht so, dass es in Ingolstadt keine Toten gab, doch mein Chef hat mich eigentlich nur Papierkram machen lassen. Er meinte, ich wäre zu jung für den Posten einer Ermittlerin in seinem Team. Auch wenn ich eher der Meinung bin, das Problem war, dass ich kein Dingeling zwischen den Beinen habe." ,,Was?", fragte die Kommissarin verwirrt: ,,Was für ein Dingeling?" ,,Du weißt schon", nuschelte die Neue und deutete zwischen ihre Beine, bevor sie erneut knalle rot wurde. Wieder musste Mara schallend lachen: ,,Du meinst, du bist kein Schwanzträger."
Noch immer ziemlich errötet saß Stephanie auf dem Beifahrersitz und wartete darauf, wieder eine normale Gesichtsfarbe zu erlangen, während Mara darauf wartete, dass sich die Neue beruhigt hatte. ,,Geht's?" ,,Können wir vielleicht noch kurz warten? Ich fühl mich nicht bereit, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll oder wie ich mich verhalten soll?" Aus dem Rot wurde eher ein bleiches Weiß und mit fast schon Angst in ihren Augen blickte sie zu der Kommissarin. Was die Sache etwas amüsant machte, war, das die Ratsuchende zu ihr herunterblickte. ,,Das kann ich dir nicht sagen. Es gibt kein Wundermittel. Ich selbst habe es noch nicht gemeistert. Jeder Mensch ist unterschiedlich und geht anders mit dem Tod um. Oder eben, wenn man erfährt, dass der Mörder gefasst wurde. Manche sind froh, manche sind sauer, dass es so lange gedauert hat." ,,Sehr beruhigend", nuschelte die Neue und vergrub sich fast noch mehr in ihrem Sitz. Knapp tätschelte Mara ihr auf die Schulter, dann entgegnete sie: ,,Überlass mir das Reden." Statt auf ihre Antwort oder überhaupt eine Reaktion zu warten, stieg Mara aus und sah sich bereits nach dem Haus um, in welchem die Eltern des ermordeten Studenten wohnten. ,,Wie war nochmal die Hausnummer?" ,,103, das Haus dort drüben mit den vielen Stockwerken", antwortete die Neue, während auch sie das Auto verließ und das Gebäude betrachtete. Es war ein grauer Klotz, umrandet von weiteren Hochhäusern, die genauso lieblos wirkten. Selbst mit der eigentlich warmen Atmosphäre des Frühlings wirkte die Gegend trostlos und erinnerte sie an die Szenerie eines dystopischen Films, der die Zukunft von seiner schlimmsten Seite zeigte. ,,Von Mexiko Stadt zu den Münchner Ecken, über die niemand spricht. Hat bestimmt eine ganz schöne Weile gedauert, bis sich die Familie an das deutsche Klima gewöhnt hat", kommentierte Stephanie die Situation und zwang sich selbst ein Lächeln auf, vermutlich nicht nur, um Mara von ihrem Selbstvertrauen und Humors zu überzeugen, sondern auch sich selbst. ,,Komm, wir haben noch viel Arbeit vor uns." Mit den Händen in den Taschen ihres Trenchcoats ging die Kommissarin los, die Neue folgte ihr sogleich. Trotz ihres relativ schnellen Schritts hatte Stephanie keinerlei Probleme mitzuhalten, sondern wirkte eher, als würde sie entspannt und gelassen den Laufsteg entlang laufen. Nur der Blick der arbeitenden Gedanken raubte der Frau den Anschein, alles im Griff zu haben. ,,Welche Informationen haben wir über das Opfer? Es ist immer gut, die Persönlichkeit des Opfers zu kennen. Es hilft, mit den Angehörigen zu sprechen." ,,Miguel Fernandez-Diaz, 19 Jahre, in Mexiko Stadt geboren. Die Eltern haben ok verdient, mussten jedoch vieles aufgeben, um hierher zu ziehen. Wegen seiner unglaublichen Leistungen im TMS, welchen er übrigens auf deutsch geschrieben hat, bekam er hier an der LMU einen Studienplatz. Laut Aussage seiner Mutter war Miguel hart arbeitend und ließ nichts dem Zufall. Er wollte Kinderarzt werden", plätscherte es aus ihr heraus und ohne etwas zu entgegnen hörte Mara einfach zu: ,,Nach seinem Verschwinden meldete seine Mutter ihn sofort vermisst und unsere Kollegen nahmen den Fall sofort auf, bevor dann die Leiche gefunden wurde. Bei den Ermittlungen gingen die Zuständigen ziemlich schnell von Bandenkriminalität aus und dass Miguel Fernandez-Diaz bei einer Auseinandersetzung oder als Zeichen so brutal ermordet wurde. Jedenfalls hakten sie den Fall ab, ohne einen Mörder zu bestimmen." ,,Von wegen tolerant", knurrte Mara und schüttelte den Kopf: ,,Wir werden uns eindeutig bei den Eltern des Junges für unsere Kollegen entschuldigen müssen."
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Bilder der Nacht
Mystery / ThrillerMünchen, 2022... Nach zwei Jahren Pandemie versucht die Stadt endlich wieder zur Normalität zu finden, doch anscheinend hat jemand einen anderen Plan. Im Frühling des Jahres wird eine Leiche in einem der reicheren Gemeinden gefunden, welche jedoch...