Für so etwas bist du zu alt

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'Tanz Joyce, tanz Joyce, tanz Joyce' singen alle Kinder im Chor, während sie im Kreis hüpfen. Die kleine mickrige siebenjährige Joyce steht in der Mitte aller Kinder und wünscht sich am liebsten gar nicht geboren worden zu sein. Bespuckt, geschubst und beschimpft wird sie. So wie eigentlich jeden Tag. Dabei hat sie Keinem etwas getan. 'Tanz Joyce, tanz Joyce, tanz Joyce' hallt es immer wieder von den Wänden. Und ich? Ich hänge einfach hilflos über alldem und kann nichts unternehmen. Vielleicht will ich auch gar nichts unternehmen. Die hässliche Joyce versucht mit aller Kraft ihre Tränen zurück zuhalten. Ihre Hände hat sie tief in ihrer viel zu großen Latzhose vergraben. Kein Einziger hält sich zurück. Jeder will einmal an die Reihe kommen, der Brillenschlange etwas an den Kopf zuwerfen. 'Tanz Joyce, tanz Joyce, tanz Joyce.' Immer wieder. Wie kann man nur so erbärmlich sein? Ein leises Glucksen entfährt meiner Kehle. Dann fange ich erbarmungslos an zu lachen. Zwischen einigen Lachsalven bringe ich hervor: 'Tanz Joyce, tanz Joyce, tanz Joyce.'

Von der Nässe auf meinem Gesicht schrecke ich aus meinem Schlaf auf. Ununterbrochen rollen Tränen meine Wange runter. Dieser Traum plagt mich jetzt schon zehn Jahre lang. Ich habe das Bedürfnis nach meiner Mom zu rufen. Für so etwas bist du zu alt! Ermahnt mich meine innere Stimme. Mag sein. Selbst wenn ich meine Mom rufen würde, sie würde nicht kommen. Sie kann nicht kommen. Sie ist schon lange nicht mehr bei mir. Langsam sinke ich in mein Kissen zurück. Mit einem geflüsterten Mom schlafe ich wieder ein.

"Daddy können wir nicht noch irgendwas spielen?" Flehe ich meinen Dad an. Trotz meines zuckersüßen Lächelns und dem Hundeblick verneint er meine Bitte. "Es ist schon spät my princess. Du musst schlafen gehen. Sonst bekommen wir morgen beide Ärger von deiner Mom." Meine Mom würde nie mit mir schimpfen. Dafür ist sie viel zu lieb und ich mit meinen frischen acht Jahren viel zu niedlich. Das hat sie mir erst vor drei Monaten an meinem achten Geburtstag gesagt. Als ich direkt, nachdem ich meine Geschenke ausgepackt hattte, eins davon kaputt gemacht hatte und anfing bitterlich zu weinen, weil ich fürchtete sie würde mit mir schimpfen, sagte meine Mom nur: "Mi amor, ich würde nie mit dir schimpfen. Dafür bist du eine zu liebe und niedliche Tochter." Meine Mutter ist einfach die Beste. Mein Dad bringt mich in mein Bett und verlässt, nachdem er mir einen guten Nachtkuss auf die Stirn gegeben hat, das Zimmer.

Draußen höre ich Blaulicht. Unten höre ich die Türglocke. Nebenan höre ich die Stimme meines Dads und eines anderen Mannes. Da ich ohne den guten Nachtkuss meiner Mom eh nicht schlafen kann schleiche ich mich zur Tür von dem Arbeitszimmer meines Vaters und lausche. Erwachsenen Gespräche sind immer die spannendsten. "..ihre Frau gefunden. Jegliche Rettung kam zu spät." Höre ich den Mann in Uniform sagen. Durch den Türschlitz kann ich erkennen, wie das Gesicht meines Dads weiß wird und eine Träne seine Wange hinab kullert. Ihn so traurig zu sehen halte ich nicht aus und ich laufe auf ihn zu. "Daddy was ist los? Wo ist Mommy?"

"Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort my princess", flüstert er lediglich.

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