Lass dich nicht unterkriegen

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Alles erinnert mich an die Situation, als Luca das letzte Mal vor meiner Haustür gestanden hat. Während ich im Schneckentempo weiter den Flur entlang laufe, steht der Blondhaarige mit gesenkten Blick im Türrahmen. Diesmal siehst du aber wesentlich besser aus. Und er auch. Was nicht heißen soll, dass er in seinem Trikot schlecht ausgesehen hat. Schon klar, Joy. Wer steht nicht auf Jungen in Anzügen? Kurz schüttele ich meinen Kopf über meine innere Stimme, bis mir bewusst wird, dass dies sehr wahrscheinlich ziemlich komisch rüberkommen muss. Mit einem tiefen Atemzug bleibe ich vor Luca stehen. "Hey", lasse ich nach einem kurzen Räuspern von mir verlauten. Erst jetzt richtet der Junge gegenüber von mir seinen Blick auf mich und vergräbt seine Hände noch tiefer in den Taschen seiner grauen Anzugshose. "Mein Dad meinte, du willst nicht reinkommen." Unbeholfen deute ich mit meinen Fingern hinter mich, so als würde mein Dad im Flur stehen. Musternd blicken mich seine grauen Augen an. Trotzdem habe ich eher das Gefühl als würde er durch mich hindurch schauen, als wäre er noch in seinen eigenen Gedanken vertieft. "Wenn ich es richtig verstanden habe, wartest du auf meine Erlaubnis, das Haus betreten zu dürfen", setze ich erneut an. Von Luca folgt jedoch immer noch keine Reaktion. Ich kann beobachten, wie sich seine Brust unter dem blauen Hemd, das er trägt, senkt und hebt. Plump klatsche ich einmal in die Hände und verschränkte meine Finger miteinander. Dieser Typ macht mich noch wahnsinnig. "Es ist okay, wenn du reinkommst", versuche ich eine Handlung von dem Blondschopf zu erzwingen, "denke ich zumindestens", füge ich hinzu. Gut so. Erhalte die Konversation aufrecht. 'Welche Konversation?', würde ich jetzt am liebsten schreien. Ungewollt lasse ich ein lautes Schnauben ertönen. Wie aus einer Trance erwacht, zuckt Luca zusammen und richtet sich auf, sodass er nun mit durchgestreckten Rücken vor mir steht und nicht wie ein Häufchen Elend.

"Hey, Joy", setzt er an, unterbricht sich jedoch wieder. "Eigentlich wollte ich dich mit einem 'Hi Joyce' begrüßen." Kurz erhebt Luca seine rechte Hand zum Gruß, bevor er sie wieder in seiner Hosentasche verschwinden lässt. "Und auch wenn es der bescheuertste Gesprächseinstieg überhaupt ist, wollte ich dich wissen lassen, dass es vollkommen egal ist, ob man dich Joy oder Joyce nennt. Nur weil viele Leute aus unserer Klasse sich nicht die Zeit nehmen hinter die Fassade von ihren Mitschülern zu blicken, heißt das nicht, dass ich das genauso mache. Sie stempeln Menschen von vornherein ab und unterteilen sie in Kategorien, die außerhalb der Schule überhaupt nicht existieren. Sie blicken dich an und sofort steht für sie fest, dass sie für dich unerreichbar sind. Dabei ist ihnen überhaupt nicht bewusst, dass es genau umgekehrt ist. Du bist für sie unerreichbar. 

Alles was die anderen können ist angeben. Sie schmücken sich mit Lorbeeren, die sie noch nicht einmal selber verdient haben. Marie erzählt immer überall rum, wie viel Geld ihr letzter Friseurbesuch gekostet hat, obwohl sie ihre Haare von ihrer Schwester frisiert bekommt. Daniel prahlt ständig damit rum, welche teuren Autos sein Vater fährt. Dabei weiß jeder, dass es lediglich Leihwagen sind, die von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden. Versteh mich jetzt nicht falsch. Mir geht es weiß Gott nicht ums Geld. Aber wie man sieht, dreht sich bei den Anderen alles umso mehr um Reichtum und Vermögen. Sie versuchen immer am besten dazustehen.

Erinnerst du dich daran, dass du mir sagtest, du bist nicht schwach? Ich habe dir geantwortet, dass ich das weiß. Denn ich finde, du zeigst eine ganze Menge an Stärke. Du scherst dich nicht darum, was andere Leute über dich denken können. Zumindestens zeigst du im Unterricht nie einen Hauch von Unsicherheit. Während sich manche in den dicksten Autos von ihren Eltern direkt vor die Schule fahren lassen, stellst du deine YAMAHA meterweit entfernt ab und gehst an ihr vorbei als würde sie nicht einmal dir gehören. Und während alle 'Coolen' jeden Tag in der Mensa essen gehen, um ihre Bekanntheit auszukosten, gehst du in die Bibliothek und lernst für deine nächste Klausur. Aber sobald es Lasagne zu Mittag gibt, setzt du dich mitten in die Mensa als würdest du schon immer dahin gehören.

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