Keine angenehme Sache

264 12 0
                                    

Der Wind pfeift um die Häuserecken, zerrt an meinen Haaren und veranlasst mich dazu, den Reißverschluss meiner Jacke bis zu meiner Nase hochzuziehen. Viel schneller als erwartet ist aus dem angenehmen Herbstwetter ein kühler Winteranfang geworden. Am heutigen Tag begegne ich wenigen Passanten auf der Straße. Verständlich. Säße jetzt auch lieber zuhause mit einer heißen Tasse Kakao in der Hand. Der Grund weshalb ich dies nicht tue, hat schwarze Haare und wartet in einem Café auf mich.

Nein, Luca - welcher übrigens über meine Entscheidung nicht gerade glücklich ist - hat sich nicht die Haare gefärbt. Eine andere altbekannte Person wartet dort auf mich. Nämlich Theo. Wer hätte das gedacht.

Nach dem Vorfall im Nebenzimmer des Direktorats ist er urplötzlich verschwunden. Einen ganzen Monat hat er sich in der Schule nicht blicken lassen. In den ersten Tagen wurde ständig hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Woraus die absurdesten Geschichten über Theo und seinem Verhältnis zu mir entstanden. Zum Glück klang dies ziemlich schnell wieder ab. Schließlich kannten die Schüler weder den schwarzhaarigen Jungen, noch mich besonders gut. Somit konnte ich in gewohnter Weise einfach neben meinen Klassenkameraden koexistieren, ohne andauernd schräg von der Seite gemustert zu werden. Vor drei Tagen lag ein Brief, der an mich adressiert war, auf unserem Küchentisch. Sowas passiert nicht allzu oft. Theo hatte ihn geschrieben, um mich zu bitten, mich mit ihm zu einer Aussprache zu treffen. Weiß der Teufel, was mich dazu getrieben hat, mich schlussendlich für das Treffen zu entscheiden. 

Unsicher strecke ich meine klammen Finger Richtung Türklinke. Bevor ich sie hinunter drücke, atme ich noch einmal tief ein und aus. Was soll an einem öffentlichen Ort und am helllichten Tag schon groß passieren?  Umbringen wird er dich schon nicht. Das ist genau die Aufmunterung, die ich im Moment brauche.

Die Glocke über der Tür klingelt leise, als ich das Café betrete. Zu meinem Erstaunen ist es recht voll. Da kannst du dich gleich etwas sicherer fühlen. Nicht lange muss ich meinen Blick über die Tische schweifen lassen, bis ich den schwarzen Haarschopf sehe. Mit möglichst festen Schritten und einem nicht allzu verkrampften Gesichtsausdruck gehe  ich auf ihn zu.

"Joyce", ganz gentlemanlike erhebt Theo sich von seinem Stuhl, "danke, dass du gekommen bist." Mit seiner linken Hand deutet er auf den freien Platz gegenüber von ihm. "Möchtest du etwas trinken oder ein Stück Kuchen essen?", erkundigt er sich. "Danke, nein. Ich habe nicht vor lange zu bleiben", lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Nachdem ich den Reißverschluss meiner Jacke geöffnet habe, verschränke ich die Arme vor meiner Brust. Du nimmst echt die Ratschläge von Luca an. Wenn ich mich schon gegen seinen Willen mit Theo treffe, kann ich wenigstens seiner Bitte, mich nicht allzu aufgeschlossen zu benehmen, nachkommen.

In einem unregelmäßigen Takt schlägt der Junge gegenüber von mir mit dem Löffel gegen die Innenseite der Tasse, während er seinen Kaffee umrührt. Dies macht mich noch nervöser als ich sonst schon bin. "Warum sitzen wir hier?", platzt es aus mir heraus, nachdem der Sekundenzeiger meiner Armbanduhr bereits das dritte Mal die Ziffer Zwölf überschreitet. "Ich wollte noch einmal unbedingt mit dir reden, bevor ich gehe", räuspert sich der Schwarzhaarige. "Bevor du gehst? Wie meinst du das?", frage ich wahrscheinlich ein wenig zu interessiert nach. Sein Brustkorb hebt sich langsam, dann atmet er einmal laut aus. "Ich werde zurück nach Washington gehen. Ende nächster Woche. Das ist wahrscheinlich das Beste."

"Das glaube ich allerdings auch", falle ich ihm nicht gerade sanft ins Wort. Auf seinem Gesicht bildet sich ein kleines Lächeln. "Wieso grinst du jetzt so blöd?", rege ich mich auf. "Früher hast du auch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ich hatte hier in der Schule das Gefühl, du hättest es vielleicht verlernt zu sagen, was du denkst. Aber du kannst es noch." Meine Reaktion darauf ist lediglich ein genervtes Schnauben. "Na, wie auch immer", räuspert sich Theo erneut, "wie gesagt, ich will noch einmal mit dir reden." Mit einer Geste, die meine Ungeduld ausdrücken soll, fordere ich ihn dazu auf fortzufahren. "Was ich da in der Schule veranstaltet habe tut mir leid. Ehrlich! Es war dumm von mir und eine totale Kurzschlussreaktion. Als ich vor einiger Zeit erfahren habe, dass du mit Liam in Hamburg lebst, war ich echt sauer. Ich habe fast meine gesamte Zimmereinrichtung zertrümmert und mich dann tagelang zwischen diesem Haufen an Sperrmüll verschanzt. Immer wieder habe ich mir einen neuen Plan zurechtgelegt, wie ich meiner Wut und Enttäuschung gegenüber euch am Besten freien Lauf lasse. Ich habe Fabio gefragt, ob ich für einige Zeit bei ihm wohnen könnte, wenn ich nach Hamburg komme, und er hat mich mit offenen Armen empfangen. Als ich im Flugzeug saß und der Pilot den Landeanflug angekündigt hat, habe ich auf einmal nur noch gehofft, dass ich dich wieder treffe und wir uns auf Anhieb so gut wie früher verstehen. Du warst schließlich meine kleine Prinzessin. Ich habe gedacht, wir hatten damals eine so starke Verbindung, die kann selbst durch zehn Jahre Trennung nicht kaputt gegangen sein. Keine Ahnung an welchem Klebstoff ich zu dieser Zeit geschnüffelt habe. Umso größer war die Enttäuschung, als du mich überhaupt nicht wahrgenommen hast. Du hast mich erst angesehen, als ich dich im Sportunterricht abgeworfen habe. Dabei war ich zu dieser Zeit bereits die dritte Woche in der gleichen Stufe wie du. Aber du hattest nur Augen für Luca. Wut und Enttäuschung hat sich ganz schnell in Hass umgewandelt. Hass den ich gegen irgendetwas richten musste. Also habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, ihn auf dich zu übertragen. Eine Kurzschlussreaktion hat die Nächste angekurbelt. Immer mehr habe ich mich in etwas hineingesteigert, für das du gar nichts kannst. Doch offensichtlich ist mir das erst viel zu spät klar geworden. Ich habe dich zu unrecht so schlecht behandelt und runtergemacht. Ich habe die Sachen an den Kopf geworfen, die besser in der Vergangenheit geblieben wären. Aber wie jeder weiß, kann man die Zeit nun mal nicht zurückdrehen. Und eine Entschuldigung macht nicht alles ungeschehen, aber ich hoffe, sie lässt mich etwas besser dastehen als einen kranken Typ, der keine seiner Taten bereut. Joyce, es tut mir leid. Wirklich", schließt Theo ab.

"Und der Kaffee ist jetzt auch kalt", grinst er etwas schief, nachdem er einen Schluck zu sich genommen hat. "Wo warst du den letzten Monat?", frage ich monoton. "Hier und dort. Dort und hier. Hamburg ist groß. Da findet man genügend Unterschlupf Möglichkeiten, wenn man seiner Mutter aus dem Weg gehen möchte", zuckt er desinteressiert mit seinen Schultern. "Deine Mutter ist hier in Deutschland?", richte ich mich auf meinem Stuhl auf. Unaufgeschlossen sieht aber anders aus. Theo nickt knapp. "Sie hat extra ihre übrigen Urlaubstage und Überstunden zusammengekratzt und war für zwei Wochen hier. Keine angenehme Sache." 

"Wieso?", werfe ich ohne viele Emotionen in den Raum. "Meine Mom hat sich verändert. Sie ist nicht mehr die Frau mit der Carona Pferde hätte stehlen können. Aber ich erspare es dir lieber, dabei zuzuhören, wie ich alle ihre Veränderungen aufzähle. Jedenfalls war sie nicht sehr erfreut, als sie erfahren hat, dass ich in einer Nacht und Nebelaktion, ohne ihr Einverständnis, nach Deutschland gegangen bin. Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass es nicht das beste Erlebnis ist, mit einer wildgewordenen Furie in einem Zimmer zu leben", wieder ein desinteressiertes Schulterzucken. Anscheinend hat er nicht viel mehr als Desinteresse für seine Mom übrig. "Solltest du dich fragen, wer mich zur Vernunft gebracht hat...meine Mom war es nicht. Fabio hat mit mir eine ganze Nacht lang geredet und dadurch ist mir so einiges klar geworden."

"Warum bist du nicht auf die Idee gekommen, direkt mit mir zureden? Hat es sich wirklich gelohnt nach Hamburg zu kommen, mich fertig zu machen, aber im Endeffekt ohne Ergebnis wieder zurück nach Washington zu fliegen?", frage ich, während ich mich langsam nach vorne lehne und meine Ellenbogen auf den Tisch abstütze. "Ich weiß es nicht. Immer, wenn ich dir über den Weg gelaufen bin, habe ich rot gesehen. Mir kam gar nicht in den Sinn, dass wir zwei wie normale Menschen miteinander reden könnten. Und es tut mir unheimlich leid", beteuert Theo. Eine Zeit lang nicke ich mit meinem Kopf verständnisvoll auf und ab. "Ich denke es ist Zeit zu gehen. Nicht nur für dich, sondern auch für mich", stelle ich klar, "ich habe dir den Gefallen getan und zugehört, was du zu sagen hast. Ich nehme deine Entschuldigung an, aber dir muss klar sein, dass ich dir trotzdem jede einzelne Sache, die du mir angetan hast, übel nehme. Wir sind hier in keinem Film, in dem sich die verlorenen Freunde Rotz und Wasser heulend in die Arme fallen und sich alle Gemeinheiten verzeihen. Wir mögen damals sehr gute Freunde gewesen sein, aber in einer Zeitspanne von zehn Jahren verändern sich Menschen. Du hast dich verändert und auch ich habe das getan. Deshalb denke ich, wäre es nicht richtig, einfach weiterzumachen als wäre nichts gewesen. Das was du getan hast, macht man einfach nicht. Weder ich, noch irgendwer sonst verdient so etwas. Ich hoffe, du kannst meine Entscheidung akzeptieren."

Damit erhebe ich mich von meinem Stuhl, ziehe meinen Reißverschluss wieder zu und blicke auf einen verdutzten Theo hinab. "Ich hoffe, du bekommst das - was auch immer das zwischen dir und deiner Mom ist - wieder hin", lege ich sachte meine rechte Hand auf seine Schulter. Rasch beuge ich mich zu ihm hinunter und drücke ihm einen leichten Kuss, bei dem ich seine Haut kaum berühre, auf die Wange. Dann mache ich mich auf den Weg nach draußen.

Sofort hole ich mein Handy aus meiner Jackentasche hervor. Vier verpasste Anrufe von Luca. Ohne lange zu überlegen drücke ich auf den Rückrufknopf. Es klingelt nur zwei Mal, da wird auch schon abgehoben. "Alles klar bei dir, Joy?", erkundigt er sich sofort. "Ja", lächle ich automatisch, "mir geht es gut. Ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause. Willst du vorbei kommen?"

"Bin in zwanzig Minuten da."

________________________

Wooooaaah Weeey! Hier ist das versprochene Bonuskapitel.

Ich habe zurzeit meinen ersten Urlaub und habe endlich die Zeit - wen belüge ich hier eigentlich? Und habe endlich die Motivation und die Idee gefunden ein Kapitel zuschreiben.

Ich hoffe ihr nehmt es mir nicht übel, dass das Kapitel nicht von Luca und Joy gehandelt hat; aber ich hatte einfach den Drang die Sache mit Theo richtig und offiziell abzuschließen.

Ich weiß nicht wie lange es dauern wird, aber ich schreibe auf jeden Fall noch weitere Bonuskapitel. Die werden dann auch von Luca und Joy - oder auch den anderen Personen - handeln.

Distract me with your eyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt