Du hast sie vergessen

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Mr. Schuh liegt direkt vor meinem Gesicht und schneidet komische Grimassen. So schnell ich kann, drehe ich mich um und laufe aus dem Zimmer. Ich habe es echt eilig, doch ich komme einfach nicht von der Stelle. Plötzlich befinde ich mich in einer Abstellkammer und werde von Eimern, Besen und Putzlappen überschüttet. Der Boden unter mir wackelt, als wäre ich auf einem Schiff unterwegs. Bevor sich meine Seekrankheit bemerkbar machen kann, nehme ich eine verzerrte Stimme war. "Hoch jetzt!", ruft sie unermüdlich. Immer noch schwankt der Boden und ich werde umher geworfen. "Steht auf!" Warum redet die Stimme im Plural?

Verwirrt öffne ich meine Augen. Ich finde mich in Phils Armen wieder. Du hast ihn ernsthaft als Kissen missbraucht. Über uns steht Jonas und hüpft wie ein kleines Kind auf dem Bett umher. Als die Situation langsam in mein Bewusstsein tröpfelt, richte ich mich mit einem leisen Schrei auf. "Na endlich. Ich dachte schon, ich müsste einen Eimer voll Wasser holen." Lachend steigt Jonas vom Bett. "Beeil dich. Wir müssen in die Schule." Hätte nicht gedacht, dass er solchen Wert darauf legt. Mit meinem Haargummi knoten ich rasch meine Haare in einem Dutt zusammen und krabbel umständlich über Phil hinweg aus dem Bett. Dieser schläft übrigens immer noch. "Phil?", frage ich und rüttel ihn an den Schultern. Grummelnd dreht er sich zur anderen Seite. "Lass den Penner schlafen, Joy", merkt Jonas an, der im Flur steht und seinen Rucksack schultert. Wie nett wir heute morgen doch sind.
"Hier", er wirft mir beim Verlassen des Hauses eine Tüte zu, "ich habe deine Croissants besorgt." Neugierig öffne ich sie. Direkt steigt mir der typische Geruch von Gebäck in die Nase. "Woher weißt du...", setze ich an. "Dass du die am liebsten ist?", vollendet Jonas meinen Satz. Dann lacht er. "Ich wohne auch hier und bekomme durchaus mit, was du zum Frühstück isst, wenn du hier bist." Ja, da ist was dran. Hungrig beiße ich in eins hinein. "Danke", nuschel ich.
Das Haus der Lorenz' ist nicht allzu weit von der Schule entfernt. So laufen wir zwanzig Minuten schweigend nebeneinander her. Die meisten Schüler, die uns entdecken, mustern mich komisch. "Sag mal, habe ich noch irgendwo Schokolade im Gesicht?", wende ich mich an Jonas. "Nein", lacht er, nachdem er mich kurz angeschaut hat. Unter den ganzen Blicken fühle ich mich echt unbehaglich. Also lege ich einen Zahn zu. Auch Jonas geht etwas schneller, um auf gleicher Höhe mit mir zu bleiben. "Warum rennst du?"
"Alle starren mich an", zische ich, "und ich weiß nicht wieso." Das liegt daran, dass du nie mit jemanden gesehen wirst und schon gar nicht mit ihm. Wenn er mich immer ignoriert. Vielleicht hast du ihn auch einfach immer ignoriert. Lachend schüttelt Jonas seinen Kopf. "Bis dann irgendwann mal." Leicht boxt er mir gegen meine Schulter und geht zu den Leuten aus meiner Parallelklasse. Zügig laufe ich in das Gebäude.
An meinem Spind befülle ich meine Tasche mit den richtigen Büchern und Heften. Als sich der Gang mit Schülern füllt, versuche ich mich mehr oder weniger in meinem Spind zu verstecken. "Hey, Joyce!" Vor Schreck knalle ich mit meinem Kopf gegen die Spindtür. Ich versuche den Schmerz mit meiner rechten Hand weg zu reiben, während ich mit der linken Hand meinen Spind schließe. Vor mir steht eine überaus glückliche Zoey. "Hast du viel für die Pädagogikklausur gelernt?", fragt sie mich. Klausur? Du hast deine Klausur verpeilt. Gnadenlos lacht mich meine innere Stimme aus. Mit geweiteten Augen schaue ich Zoey an. "Du hast sie vergessen?", kichert sie, "Dass ich das noch erlebe." Ihre schwarzen Locken fliegen durch die Luft, als sie lächelnd ihren Kopf schüttelt. "Was mache ich jetzt?"
"Du packst das schon. Wir haben doch früh genug angefangen zu lernen", muntert mich Zoey auf. Hoffen wir es.

Nervös sitze ich auf meinem Platz in der ersten Reihe. Ich habe nicht nur die Klausur vergessen, sondern auch meine Englisch Hausaufgaben nicht erledigt. Weltuntergang! Hoffentlich überlebe ich diesen Schultag.

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